Vom Kämpfen und vom Schreiben
veröffentlicht hätte, er habe sich so viel Arbeit gemacht und nun würde ich ihn so derbe bescheißen. Ich sage ihm, dass ich mir das Mikro nur angesehen und dann ein eigenes, neues derselben Firma gekauft hätte. Für sündhafte achtzig Euro. Tom schreit, ich sei verlogen und intrigant und knallt den Hörer auf. Ich mache ein Foto unseres neuen Mikrofons und sende es ihm per E-Mail. Tom mailt zurück, dass er sich schon gedacht hätte, dass mit mir nicht vernünftig zu reden sei. Ich geb’s auf.
Nun sind drei Carla-Berling-Titel auf dem Markt, aus denen ich vorlesen kann. Ich habe viel zu tun, um diese Bücher zu vermarkten, aber ich habe kein aktuelles Thema, an dem ich schreibe. Das macht mich unruhig, unzufrieden. Etwas fehlt mir.
Also nehme ich mir ein unfertiges Manuskript vor, das in den sechziger und siebziger Jahren spielt, eine Erzählung, ein Roman, ich weiß es nicht. Ich habe damit Mitte der neunziger Jahre angefangen, schon oft daran geschrieben, es gibt viele verschiedene Anfänge, Versionen in der dritten und der ersten Person, im Präsens und in der Vergangenheit erzählt, hundertfünfzig Seiten. Da gibt es also eine Geschichte in mir, die ich erzählen möchte – oder muss –, aber ich finde keine Form dafür.
Wochenlang konstruiere ich Schauplätze, entwerfe ein ganzes Dorf mit kompletter Infrastruktur, schaffe Charaktere, gebe ihnen eine Identität, Aussehen, Angewohnheiten, eine Familiengeschichte und die Rolle, die sie in diesem Roman spielen sollen. Ich reise in das alte Weserdorf, in dem ich aufgewachsen bin, und fotografiere jeden Winkel dieses Ortes, den ich mir als Schauplatz ausgesucht habe.
In meinem Arbeitszimmer bedecke ich eine ganze Wand mit Biografien, Fotos, Skizzen, Landkarten, alten Ansichtskarten und Zetteln.
Ich komme nie über diese Seite hundertfünfzig hinaus. Genau an dieser Stelle weiß ich nicht weiter, die Geschichte stockt. Vielleicht stockt sie, weil ich nicht weiß, wohin sie führen soll?
Später fällt mir mein allererstes Werk wieder ein, das von 1994, mit dem alles begann. Der alte Leitzordner, in dem ich es abgeheftet habe, ist ganz verstaubt. Schreibmaschinenseiten. Die gibt es doch kaum noch, oder? Man kann die Buchstaben fühlen, sie sind ins Papier geschlagen, haben manchmal kleine Löcher hinterlassen. Kein »e«. Ich muss schmunzeln. Wie lange ist das alles her – und dennoch kommt es mir vor wie gestern, wenn ich an das kalte kleine Haus denke, in dem ich in null Komma nichts einen Besteller schreiben wollte.
Was ist seither alles passiert? In meinem Leben ist nichts mehr, wie es damals war.
Ich lese das Manuskript mit dem Wissen und der Erfahrung von heute. Es ist immer noch ein super Stoff, und jetzt packt mich die Geschichte wieder, und ich beschließe, das Buch neu zu schreiben.
Früh um acht Uhr sitze ich am Schreibtisch, überarbeite die Seiten vom Vortag und schreibe und schreibe und schreibe. Ich weiß von der Arbeit an den »Im Netz der Meister« Romanen, wie ich mich disziplinieren muss, und welches Pensum ich mir zutrauen kann. Sobald ich meinen Kopfhörer auf dem Kopf habe und die ersten Takte von »Blue Monday« von New Order so laut dröhnen, dass ich nichts anderes mehr wahrnehmen kann, schaltet mein Gehirn um auf »Arbeit«.
Ich schreibe vierhundert Seiten in acht Monaten, genau wie beim »Netz der Meister 2«.
Worum es geht? Die Kellnerin Rena und Mike, DJ in einer Schicki-Micki-Disco, sind verrückt, frisch verheiratet und glücklich. Sie träumen von einer schöneren Wohnung, einem neuen Auto, Reisen und bezahlten Rechnungen. Ihr leichtsinniges Leben endet jäh, als Mike seinen Job verliert. Doch dann wirbt ihn eine Versicherung an. Dass er auf Gehirnwäschen und Manipulationen hereinfällt, sich an kriminellen Geschäften beteiligt und in eine Welt gerät, in der »Schein« mehr wert ist als »Sein«, bemerken Mike und Rena erst, als es fast zu spät ist.
Beide machen im Strukturvertrieb eine rasante Karriere. Sie verdienen viel, tagen in Luxushotels, gewinnen Reisen, tragen echte Lacoste-Polos und falsche Rolex-Uhren und bewegen sich auf einem Parkett, von dem sie nie zu träumen gewagt hatten. Fest glauben sie daran, sich bald auch die echte Rolex leisten zu können. Rena und Mike »gehören dazu«, sind Teil einer Organisation, die sich als Elite versteht. Man verspricht ihnen eine Zukunft in Reichtum und den Neid der Anderen. Sie werfen alle moralischen Werte über Bord und denken nur noch in zwei Kategorien:
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