Vom Liebesleben der Stechpalme: Roman (German Edition)
Dorfkirche, in der sich eine Holzfigur des heiligen
Franziskus befindet. Spätes Mittelalter. Hoffentlich erlaubt uns der Pfarrer, einen
Blick auf die Rarität zu werfen.«
»Keine Bange.
Geld öffnet hier alle Türen. Auch die Kirchenpforten.«
Die Dorfkirche
war jedoch geschlossen, das Eingangstor mit einem Balken zugenagelt. Wir waren zu
spät, wie uns eine alte Frau erzählte. Vor zwei Wochen war nachts ein Kombi vor
der Kirche vorgefahren. Die alte Frau, die nebenan allein in einem Haus wohnte,
hatte sich über die nächtlichen Kirchengänger gewundert, aber sie wusste: Die Welt
ist schlecht und voller Versuchung, und die Sünder brauchen Gottes Trost, manchmal
auch nachts. Das Beten vor dem kostbaren Altar war anscheinend so schön, dass die
Kirchenbesucher ihn vollständig abmontierten und mitnahmen. Die alte Frau betete
jetzt vor der verschlossenen Kirche. Möge der liebe Gott die Kirchendiebe auf den
richtigen Weg zurückholen. Und den heiligen Franziskus auf seinen angestammten Platz
in der Kirche. Kurt tröstete die alte Frau, stellte ihr viele Fragen, nahm ein Protokoll
auf und versprach, sich der Sache anzunehmen. Als Privatdetektiv. Die Frau nickte
eine wenig bedeppert und ging schniefend ins Haus zurück.
Aus heiterem Himmel prasselte ein
warmer Regen nieder. Wir flüchteten zurück ins Auto und fuhren weiter. Zur nächsten
Kirchenbesichtigung nach Jelenia Góra. Wir glitten über das nasse Kopfsteinpflaster
durch das Dorf. Der Regen hörte abrupt auf. Die Straße, die in das Tal hinabführte,
dampfte wie eine Bratpfanne, roch aber angenehm nach Blumen und Gras. Die weite
Aussicht auf Täler und Gebirgsketten verschlug mir den Atem, was für ein Unterschied
zu meiner alltäglichen, stark begrenzten Hinterhofperspektive. Nach einer Stunde
erreichten wir die Stadt, stellten das Auto in einer Nebenstraße ab und zu Fuß gingen
wir ins Zentrum, zur St.-Erasmus-und-Pankratius-Kirche.
Das Kirchentor
stand sperrangelweit offen. Durch den schummerigen Vorraum gelangten wir ins Innere.
Die Kirche war fast leer, nur zwei Frauen steckten weiße Gladiolen in eine Blumenvase
auf dem Altar. Es roch nach kaltem Weihrauch, ich kehrte schnell um und setzte mich
draußen auf eine Bank mit Aussicht auf ein neues Einkaufszentrum. Hässliche, lang
gezogene, aneinandergereihte Hallen mit viel Schaufensterverglasung. Nach einer
Weile kam auch Kurt heraus und setzte sich zu mir.
»Na, hast
du alle Klunker genau angesehen?«, fragte ich.
»Klunker?
Den prachtvollen Altar aus dem 14. Jahrhundert.«
»Falsch.
Anfang 18. Jahrhundert.«
»Von dem
berühmten …, wie hieß er bloß?«
»Thomas
Weissfeldt.«
»Und die
einmalige Kanzel. Hoch gesetzt wie ein Vogelnest.« Kurt sah mich von der Seite fragend
an. »Vermutlich Rokoko.«
»Nein, Barock.«
»Du erstaunst
mich, Valeska!«
»Tja, wir
hatten in meiner Kindheit eine umfangreiche Bibliothek auf dem Dachboden. Der deutsche
Vorbesitzer hatte sie wohl vergessen. Darunter waren viele alte deutsche Reiseführer.
Derer hat sich meine Mutter systematisch angenommen.«
»Sie war
interessiert an deutschem Kulturgut?«
»Unbedingt.
Die Bücher hat mir meine Mutter Blatt für Blatt in die Schule mitgegeben.«
»Oho! Hast
du das alles gelesen?«
»Nicht sofort
natürlich. Erst nachdem ich mein Brot aufgegessen hatte. Meine Mutter wickelte nämlich
meine Pausenbrote in die Buchseiten ein.«
»Nein!«
»Doch! Brotpapier
war damals Mangelware.«
Kurt schnappte
nach Luft. »Aber die anderen Sachen habt ihr doch behalten. Oder?«
»Teilweise
ja. Meine Familie übersiedelte in den 50er-Jahren nach Schlesien mit nur einem Koffer.
Wir konnten alles gut gebrauchen, was uns die Deutschen nolens volens hinterlassen
hatten. Die schweren Möbelstücke des Vorbesitzers haben wir besonders zu schätzen
gewusst. Jeden Winter. Sie brannten gut im Ofen. Trockenes, altes Holz.«
»Schöne
alte Möbel. Wie schade!«
»Finde ich
auch«, sagte ich. »Vieles ist zum zuvor Glück gerettet worden. Es gab genügend Plünderer,
getarnt als Kunstliebhaber, die unmittelbar nach dem Krieg mit Lastwagen nach Schlesien
kamen, um wertvolle Objekte mitzunehmen. Sogar später klapperten ausgefuchste Händler
die Dörfer ab, auf der Suche nach Antiquitäten, die unbemerkt auf Dachböden verstaubten.
Diese Möbel schmücken bis heute viele Wohnungen.«
»Über Kunstdiebstähle
habe ich viele Bücher gelesen«, warf der angehende Detektiv ein. »Ist die hiesige
Polizei auf solche Fälle
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