Vom Liebesleben der Stechpalme: Roman (German Edition)
leicht
ließ ich mich nicht aus dem Konzept bringen, ich streckte meinen Rücken durch und
fuhr mit entsprechend erhabener Stimme fort: »Jawohl, eine Linde. Alle Äste, ich
meine Familienmitglieder, die auf den Ästen sitzen, als Bild natürlich, sind stolz
auf ihre genetische Eigenart.«
Kurt schüttelte
den Kopf. »Was ist bloß in dich gefahren, Valeska?«
Ungerührt
sprach ich weiter: »Uns, dich und mich, Alix, verbindet ein starkes Band. Wir sind
ein wenig anders als die anderen.«
Alix fragte
endlich interessiert: »Und was ist das andere an deiner Familie?«
»Gut, dass
du danach fragst. Wir rühmen uns einer ausgeprägten querulantischen Ader, außerdem
haben wir sechs Zehen am linken Fuß.«
Beide starrten
mich an. Ich zeigte auf meinen beschuhten Fuß und fügte stolz hinzu. »Die Zehen
sind mondförmig. Übrigens, ist dein Bruder inzwischen von der Reise zurück?«
Ihr Blick
huschte zu meinem linken Schuh. »Nein, noch nicht.«
»Schade,
ich hätte ihn so gerne getroffen. Er ist nach Berlin gefahren, oder?«
»Da weißt
du mehr als ich.«
»Dein Vater
hat mir das erzählt. Im Vertrauen.«
»Mein Vater!?
Schwachsinn! Das regt mich auf, ich möchte nicht darüber reden.«
Ach, so
war das, ich war also nicht adlig genug, um über Familienangelegenheiten zu plaudern,
und auf Vater Robotkas Wort gab sie noch weniger. Vielleicht sollte ich mich selbst
auf die Suche nach dem Bräutigam machen? Hoffentlich waren männliche Adelige nicht
so wortkarg.
Beschwingt
stand ich auf und griff nach meinem federleichten Rucksack. Kurt hievte Alix’ kugelrunden
Rucksack auf seinen Rücken.
Wir setzten
den Weg fort, den Berg hinauf. Mit leichten Schritten ging Alix auf dem steinigen
Pfad voraus. Kurt stapfte wie ein gestresster Frosch auf Nahrungssuche hinter mir
her, die Augen weit aufgerissen, die Zunge hing heraus. Nach einer Stunde standen
wir auf dem Hügelkamm und blickten auf die andere Seite hinunter. Die Häuser des
Dorfes lagen weit verstreut am Hang. Wir mussten also mühsam von Haus zu Haus wandern
und nachfragen.
Meinen großen
Hund hatte man nicht vergessen, er war tatsächlich gesehen worden. Angeblich durfte
er sich kurz mit einer Hündin vergnügen, bevor ihn die hiesigen Hunde gemeinschaftlich
aus dem Dorf gejagt hatten. Kurt fand einen Bauern, dessen Hof mein liebestoller
Ben besuchte hatte. Der geschwätzige Landmann erzählte von seinem Schwager, der
ein Auge just auf meine reinrassige Dogge geworfen hatte. Der Hund würde früher
oder später bestimmt an dessen Bauernhof vorbeikommen. Emsig schrieb Kurt die Adresse
auf, er wollte sich um die Angelegenheit kümmern. Er sei doch ein Privatdetektiv
und kenne sich mit vermissten Personen und entlaufenen Tiere aus. Erstaunt nahm
ich es zur Kenntnis, widersprach nicht, denn jede Methode war mir recht, um Ben
zu finden.
Das Ende
des Dorfes markierten ein Eisenskelett, das früher als Telefonzelle gedient hatte,
und ein schiefer Pfosten einer Bushaltestelle. Ich setzte mich müde auf die erstaunlich
gut erhaltene Bank und beschloss, mit dem nächsten Bus in die Pension zurückzufahren.
Alix wollte weiterwandern. Kurt erbot sich nach wie vor als Gepäckträger und seine
Bitte wurde erhört. Zum Abschied drückte er mir fest die Hand. »Was denkst du, was
für ein Spruch würde zu mir passen?«
»Otium
cum dignitate. Der Satz wurde von Cicero geprägt und bedeutet ›Muße mit Würde‹.«
»Gefällt
mir gut.«
Zufrieden
eilte er Alix hinterher.
In dieser Nacht träumte ich, dass
Ben immer noch nicht zurück wäre und Jan in Untersuchungshaft säße. Als ich aufwachte,
wusste ich, es war kein Traum. Kurt und die Pensionswirtin unterhielten sich laut
vor meiner Tür.
»Wir sollten
sie nicht wecken«, hörte ich Kurt. »Lassen Sie sie noch eine Weile im Glauben, dass
alles in Ordnung ist. Wissen Sie, wie schlimm das ist, wenn man so aus einem süßen
Traum gerissen wird?«
»Was reden
Sie, ich will Frau Lem keinen Schreck einjagen«, übertönte ihn die Pensionswirtin
mit schriller Stimme. »Wir müssen sie aber sofort informieren, dass Linde im Knast
sitzt.«
»Nur in
Untersuchungshaft, wohlgemerkt. Ich habe Sie übrigens für eine sensible Frau gehalten.«
»Bin ich
ja auch«, brüllte die Pensionswirtin.
»Frau Kochmann,
die schlechten Nachrichten können ruhig noch eine Stunde warten. Gehen Sie jetzt
in die Küche zurück und kochen Sie uns allen bitte einen schönen, starken Kaffee.
Sie trinken bestimmt auch gerne eine
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