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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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es floss immer mehr nach. Es war warm, schmeckte metallisch und auf unangemessene Weise nahrhaft, so als würde ich mich selbst in langen Zügen austrinken. Ich würgte. Heidrun legte mich hinter den Sockel einer griechischen Gottheit. Sie schaute auf den Spalt zwischen Sockel und Fußboden, der ganz mit Spinnweben abgedichtet war. Rasch zog sie ihr Portemonnaie durch diesen Spalt, streifte die Spinnweben vom Leder, rollte sie zu einer Kugel und steckte sie mir ins blutende Nasenloch.
    – Kein Taschentuch, sagte sie knapp und setzte sich in ihrem feinen Kostüm neben mich auf den Boden. Eine Aufseherin kam und fragte mürrisch, was los sei. Meine Mutter deutete auf mich und sagte in ihrem Volkshochschulkurs-Französisch und einem Ton, der beschwichtigend klingen sollte, dass so weit alles in Ordnung sei. Ich lag eine ganze Zeit mit dem Rücken auf dem kalten Steinboden und schaute mir die Marmorgötter von unten an, sie waren groß und weiß und muskulös. Von hinten konnte man nicht sagen, ob sie männlich oder weiblich waren. Sie schienen zu schwanken, wurden größer und kleiner, dicker, dünner, kamen näher und rückten wieder von uns ab. Ich schloss die Augen, warm rann es mir die Kehle hinab.
    Irgendwann standen wir auf und gingen weiter durch die Räume dieses unendlichen Museums. Als wir hinaustraten, war es dunkel, was mich zutiefst beunruhigte. Ich konnte mir nicht erklären, wo die verstrichene Zeit geblieben war. Vielleicht hatten die Götter mit ihren glatten Kniekehlenund weißen Achillessehnen etwas damit zu tun, vielleicht lag es am Louvre selbst, ich glaube jedoch, es hat an den Spinnweben gelegen, die zunächst zwischen dem Sockel und dem Fußboden gespannt waren und später dann meine Nase verschlossen. Beim Atmen spürte ich, wie sie sich in mir bewegten.
    Auf dem Innenhof des Louvre holte Heidrun das blutgetränkte Gespinst wieder heraus, indem sie vorsichtig den Fingernagel ihres Zeigefingers und die Spitze eines Kugelschreibers wie ein Pinzette in mein Nasenloch führte und langsam zog. Es kitzelte nahezu unerträglich und fühlte sich an wie widerwillig strampelnde Spinnenbeine. Ich habe seither nie wieder Nasenbluten gehabt.
    Es war klar, dass es für Declan und mich keine Zukunft mehr gab. Orla telefoniert oft mit ihm, in den Ferien fliegt sie immer für ein paar Tage nach Dublin. Wenn Declan unterwegs ist, wohnt sie in seinem, vormals unserem Haus, aber wenn er da ist, schläft sie bei einer Freundin. Nun, da ich weg bin und Orla erwachsen ist, hat sich etwas verschoben. Es herrscht eine neue Verlegenheit zwischen ihnen, die vorher nicht da gewesen ist und die ich bedaure. Beide wissen, dass Declan nicht Orlas Vater ist, und einige seiner Freundinnen sind oft nur drei oder vier Jahre älter als Orla. Natürlich sind sie tabu füreinander, aber dennoch haben beide das Bedürfnis, dem anderen durch besonders aufmerksame Distanz zu versichern, dass sie sich dieses Tabus bewusst sind. Ich weiß, dass ich sie einander weggenommen habe. Und Andreas hatte ich Lutz und Lutz hatte mich Andreas weggenommen. Und schließlich ging ich selbst weg, und das Baby nahm ich mit.
    Andreas blieb in Grund und sprach nie wieder ein Wort.
    Und das nur, weil Lutz sich weggestohlen hatte.
    Kurz nach Lutz’ Verschwinden bekam sein Vater Krebsund zog fort aus Grund, zu seiner Exfrau. Ich erfuhr erst viel später, dass er schon bald darauf gestorben war. Ich erinnere mich an ihn als einen eigenbrötlerischen Mann mit einer sanften Stimme, die im Gegensatz zu seiner Körpergröße stand. Er war Ingenieur, glaube ich, ein Physiker oder Maschinenbauer, der in Mannheim arbeitete und nur nach Grund gezogen war, um dort vogelkundliche Beobachtungen durchzuführen. Lutz hatte erzählt, sein Vater übersetze zu seinem privaten Vergnügen ein Buch aus dem Griechischen, Ornithogonia, irgendetwas über Vögel. Er gab regelmäßig Listen beim Naturschutzbund darüber ab, wie viele Vögel er wo gesichtet hatte. Einige Male im Jahr bot er auch Vogelwanderungen durch das Tiefgestade an. Dann scharten sich um die zwölf Leute zwischen fünfzig und sechzig Jahren zusammen, leise, freundlich, mit grauen Haaren, Ferngläsern und festen Schuhen, und sie alle stapften schweigend hinter Lutz’ Vater durch die Wälder, blieben manchmal stehen, um durch das Fernglas zu schauen oder um etwas zu notieren. Soweit ich weiß, lebte er allein. Lutz lebte bei seiner Mutter in der Nähe von Heidelberg und kam nur an manchen Wochenenden und in

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