Vom Schlafen und Verschwinden
den Sommerferien zu seinem Vater. Früher hatte ich ihn immer nur von Weitem gesehen, aber in seinem vorletzten Sommer bei uns freundete er sich mit Andreas an, und da Andreas und ich zusammengehörten, lernte ich Lutz kennen.
Doch an Lutz kann ich jetzt nicht denken, er raubt mir den letzten Schlaf, was immer das auch bedeuten mag. Jenen letzten Schlaf, der mir vergönnt ist, bevor die ewige Schlaflosigkeit mich heimsucht, wie jenen alten Seemann aus der Ballade, die Joachim mit donnernder Stimme zu rezitieren pflegte.
Der Seemann hatte in jungen Jahren einen herrlichen Vogel, einen Albatros, getötet und konnte seitdem nicht mehrschlafen, nicht einmal sterben konnte er, sondern musste ruhelos umherziehen und seine Geschichte erzählen, immer und immer wieder.
Schlaflosigkeit selbst ist nicht tödlich. Wenn Menschen über lange Zeit nicht schlafen, haben sie vielleicht tödliche Autounfälle, nehmen aus Verzweiflung zu viele Schlaftabletten oder bekommen Depressionen und bringen sich um, aber Schlafmangel ist nicht die unmittelbare Todesursache.
Es gibt natürlich die fatale familiäre Insomnie, aber das ist keine Schlafkrankheit für Somnologen, das ist eine Prionerkrankung, eine Art Rinderwahnsinn, und gehört in die Neurologie.
Ich hatte einen amerikanischen Kollegen, er war mein Liebhaber, wir haben uns aus den Augen verloren. Ein Schatten, der vorüberstreicht, ich kann mich kaum noch an sein Gesicht erinnern, jedenfalls nicht als Ganzes, ich sehe seine hellen Augen mit den dunklen Wimpern, die schmale Ober- und die volle Unterlippe, die Eckzähne, die ein bisschen nach hinten standen. Auf einem Somnologenkongress in Amsterdam hatten wir die halbe Nacht getanzt und uns die andere Hälfte der Nacht geküsst, und in der nächsten liebten wir uns, und am folgenden Tag reisten wir ab. Declan war auf Tour, er hatte gerade eine frische Liebschaft, Orla war bei meinen Eltern in Grund. Mehr war nicht zwischen uns, aber auch nicht weniger. Ich schrieb ihm aus Dublin eine SMS , aber von ihm kam nichts. Erst ein knappes Jahr später, auf einer Somnologentagung in Prag, erfuhr ich, dass er gerade geheiratet hatte, eine seiner Studentinnen, zwanzig Jahre jünger und Vietnamesin. Ich war erschüttert über die Anhäufung von Klischees, das waren Lolita, My Fair Lady und Miss Saigon in einem, und ich war mir sicher, er hatte für die Hochzeit ein weißes Rössel gemietet. Doch ich war einfach nur eifersüchtig.Ich besitze die unangenehme Fähigkeit, auch dort noch Eifersucht zu empfinden, wo ich längst nicht mehr liebe oder vielleicht nie geliebt habe. Wenn sich also ein Liebhaber nach mir eine Frau nimmt, die fast halb so schwer, fast halb so alt und ganz sicher halb so anstrengend ist wie ich und in jeder Hinsicht anders aussieht, kann ich nicht umhin, das persönlich zu nehmen. Und während ich meine Stutenbisse verteilte, fühlte ich mich wie eine falbe, zottige Eselin.
Auf der Tagung sprachen wir deshalb über ihn, weil eine Kollegin zu berichten wusste, dass seine Frau seit der Hochzeitsnacht nicht mehr geschlafen habe. Überhaupt nicht mehr. Denn die Frau meines Somnologen litt offenbar an jener seltenen tödlichen Schlafkrankheit.
Es stellte sich heraus, dass sie einen Onkel gehabt hatte, einen begabten Violinisten, der in einem englischen Symphonieorchester spielte, ich glaube, in Birmingham. Er wachte eines Nachts auf und schlief nicht mehr ein. Von Nacht zu Nacht schlief er schlechter und immer weniger. Bald wurde er so müde, dass er die Geige nicht mehr halten konnte, er verlor seine Arbeit und kurz darauf seine Wohnung. Er kroch bei Verwandten in England unter, er schlief nicht. Nachts wusch und bügelte er die Wäsche der Familie, bei der er wohnte. Die Zimmer füllten sich mit Bergen gebügelter Wäsche. Er bügelte, was frisch gewaschen war, dann bügelte er, was in den Schränken war, und schließlich bügelte er, was schmutzig war, und zuallerletzt das, was er gerade gebügelt hatte.
Die Luft in seinem kleinen Zimmer war stickig, es roch nach elektrischer Wärme, nach Bügeleisen und überhitztem Bügelbrettbezug. Die Stromrechnung war gewaltig. Irgendwann nahm die Familie ihm das Bügeleisen weg, weil er es anschaltete und dann zu müde wurde, um es anzuheben. Zwei Zimmerbrände konnten mit Mühe gelöscht werden, aber nicht, weil der Onkel der Frau meines amerikanischen Kollegen irgendetwas dafür getan hätte, dafür war er zu müde. Den ersten Brand bemerkte die Schwägerin, die auf die
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