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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clough Patricia
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vorbereitete. Als er selbst beruflich etabliert war, wünschte er, dass sie die Arbeit aufgab und sich um die Familie kümmerte. Sie hatte gerade ihr viertes Kind zur Welt gebracht. Nach einigem Zögern gab sie nach und wurde Hausfrau. Doch es gab Probleme in der Ehe, sie war todunglücklich. »Ich wusste, ich musste etwas tun. Sonst wäre ich durchgedreht«, sagte sie. Und so begann sie, systematisch und vorsichtig ihre Flucht vorzubereiten. Das wichtigste war eine ordentliche Ausbildung. Mit vierzig meldete sich sie beim Abendgymnasium an, vier Jahre später hielt sie ihr Abiturzeugnis in Händen. Wie schwierig es gewesen sein muss, neben den häuslichen Verpflichtungen, der Versorgung von Haus, Mann und Kindern, diese Schulausbildung zu absolvieren! Zumal sie immer das Gefühl hatte, dass ihre Leistungen zu Hause nie wirklich geschätzt wurden. Also nutzte sie sofort ihre Chance: Sie schrieb sich in Tübingen für die Studiengänge Empirische Kulturwissenschaft und Pädagogik ein und verfasste schließlich eine Magisterarbeit zum Thema »Die Lügen beim Seitensprung im Geschlechtervergleich«, auf der Grundlage von Daten, die sie in Internetchats gesammelt hatte.
    Nach ihrem Abschluss stellte sich die Frage, was sie mit ihrer Ausbildung anfangen sollte. Eigentlich hatte sie in die Erwachsenenbildung gehen wollen, doch das Arbeitsamt für Hochschulabsolventen konnte einer knapp fünfzigjährigen Frau kaum Hoffnung machen. Ganz im Gegenteil, sie begegnete dort den alten, typischen Vorurteilen. »Was wollen Sie denn? Sie sind doch verheiratet«, sagte man ihr. Und wenn sie darauf bestand, dass sie unabhängig werden wollte, kam nur die Antwort: »Dann lassen Sie sich scheiden, dann kriegen Sie Unterhalt und können davon leben.« Ingrid traute ihren Ohren nicht. Sie war wütend. Doch sie gab nicht auf und machte sich bewusst, was sie zu bieten hatte: eine Menge Wissen über Lügen, Ehebruch und Beziehungsprobleme und die Erfahrungen, die sie bei der Sammlung ihrer Daten gemacht hatte. Sie wusste, wie man Interviews führte und Beratungsgespräche gestaltete. Sie hatte Seminare zum Thema Onlineberatung belegt. Sie verstand etwas von Consulting und Coaching und spürte nun, dass gerade in diesem Bereich ihr Alter ein Vorteil war. Denn mit einundfünfzig brachte sie Fähigkeiten und eine Lebenserfahrung mit, die von einer Hochschulabsolventin in den Zwanzigern einfach nicht zu erwarten waren.
    Sie nahm an einem Seminar für Existenzgründungen teil und lernte, wie man ein Geschäft aufzieht, wie man Kunden findet, wie man für seine Leistungen wirbt, wie man sich im Internet präsentiert und vieles mehr. 2004, endlich, war es so weit: Sie gründete das Institut für Kommunikations- und Verhaltenskultur und begann, Menschen zu beraten, die von Seitensprüngen und Dreiecksbeziehungen beeinträchtigt waren.
    Solche Geschichten findet man im hübschen, kleinen Tübingen ebenso wie überall sonst auch. Ingrids Initiative wurde auch in den Medien zu einem Thema, und dann dauerte es nicht mehr lange, bis sie in ihrem Büro, öfter noch am Telefon oder über das Internet, eine ganze Reihe von Klienten beriet. Da die meisten tagsüber beschäftigt waren, arbeitete sie häufig abends. Sie ging lösungsorientiert vor und bemühte sich, die Beratung auf etwa sechs Sitzungen zu begrenzen. Meistens genügte das. Jede Seite fand bei ihr Gehör: der Untreue, der Betrogene, die Geliebte. Auch mit anderen Beziehungsproblemen kamen Klienten zu ihr. Die meisten waren Männer, anfangs bis zu 90 Prozent. »Frauen brauchen Beratung weniger«, erklärte sie. »Sie haben ihre Freundinnen, mit denen sie alles besprechen können. Die Männer können nicht mit anderen Männern über so was reden.« Männer sehen das, was sie tut, als Dienstleistung an. Und trotzdem sind über die Jahre immer mehr Frauen zu ihr gekommen, inzwischen kümmert sie sich überwiegend um Frauen, die von ihren Männern betrogen worden sind. Es gibt einige wenige Kategorien, in die die meisten Fälle einzuordnen sind. Männer langweilen sich nach einigen Jahren beim ehelichen Sex und suchen nach neuen Erfahrungen, neuen Reizen. Frauen wünschen sich, erneut begehrt zu werden. Sie suchen jemanden, mit dem sie reden, dem sie vertrauen können. »Es ist immer dasselbe«, sagt Ingrid mit einem Lachen, »alle Studien

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