Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
konnte. Als sie sicher war, dass das Projekt machbar war, mietete sie die Fahrradwerkstatt und renovierte den Laden mithilfe eines befreundete Architekten. Sie absolvierte einen eintägigen Pflichtkurs, in dem sie über die Buchhaltungspflichten aufgeklärt wurde, über Hygienevorschriften und Vorkehrungen für Behinderte. Sie lernte, was in einem Arbeitsvertrag stehen musste und welche Regeln sie bei den Geschäftszeiten zu beachten hatte. In einem Nebensatz erwähnte der Dozent, dass 90 Prozent solcher Existenzgründungen scheiterten. Eiskalt lief es ihr den Rücken hinunter, doch abschrecken konnte sie diese Zahl nicht. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, sie war überzeugt, dass sie es schaffen konnte. SchlieÃlich wurde sie Mitglied in der Industrie- und Handelskammer, und kurz darauf, schneller, als sie gedacht hatte, erhielt sie die Genehmigung, das Café zu eröffnen.
Ihr war klar, dass es nicht genügte, eine Kaffeemaschine zu installieren und ein paar Tische aufzustellen. Von Laufkundschaft allein konnte sie nicht leben, sie brauchte etwas, das die Leute anzog. Sie musste einen Ort schaffen, an dem man sich gern traf, wo die Atmosphäre stimmte, einen Ort, den man nicht so schnell vergaÃ. Natürlich hatte sie nichts gegen Rentner, die Kaffee und Kuchen bestellten, doch vor allem wollte sie junge Leute ansprechen, Studenten, Kreative, die sich tagsüber mit ihren Freunden trafen.
Es war ein Glücksfall, dass Rebecca, eine Schulfreundin von Sissi und eine der besten Kuchenbäckerinnen des Landes, gerade ihren Job in einem berühmten Restaurant hingeschmissen hatte. Nach unzähligen Ãberstunden, nach all dem Druck, der jahrelang auf ihr gelastet hatte, hatte sie beschlossen, dass sie nicht mehr gewillt war, nur einer gut bezahlten Stelle und des Prestiges wegen ihr Leben zu zerstören und ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Als Sissi sie anrief, erzählte Rebecca, dass sie auch gerade darüber nachdachte, ein Geschäft zu gründen. »Das trifft sich ja hervorragend!«, rief Sissi. Sofort wurde abgemacht, dass Rebecca den Kuchen liefern würde. In Sissis alter Fahrradwerkstatt an der HauptstraÃe unseres Berliner Stadtteils sollte es den besten Kuchen der Stadt geben!
Sissi wusste, dass es auf sie selbst ankam. Sie musste die Atmosphäre schaffen, die Kundschaft pflegen, doch sie konnte unmöglich immer vor Ort sein. Sie brauchte jemanden, auf den sie sich verlassen konnte, der sie im Café unterstützen und gelegentlich für sie einspringen würde. Sie schaltete eine Annonce in der Zeitung und erhielt mehrere Bewerbungen, die sie aber alle nicht überzeugten. Doch dann meldete sich ihr Sohn, ein Musiker, und fragte, ob sie nicht etwas für einen polnischen Kollegen tun könne, der einen Job brauchte, während er seine Doktorarbeit über sowjetische Musik zu Ende schrieb. Sissi war etwas skeptisch, doch nach einem kurzen Vorstellungsgespräch stellte sie ihn ein. Ein freundlicher, lustiger, selbstbewusster Typ war dieser Jacek, er sprach gut Deutsch und hatte Erfahrung in der Gastronomie. Sie einigten sich auf sechs Stunden am Tag. Jacek zeigte sich bei den Arbeitszeiten flexibel, er würde da sein, wenn der Laden am vollsten war. AuÃerdem hatte er einen riesigen Freundeskreis, die meisten davon Musikstudenten und jederzeit bereit, zu den StoÃzeiten im Café auszuhelfen.
Im Frühjahr war es endlich so weit. Sissi reichte ihre Kündigung im Hotel ein und plante für den 1. Mai die groÃe Eröffnung. Am Morgen regnete es. Doch dann brach die Wolkendecke auf, die Sonne kam â Frühling! Mit Stolz betrachtete Sissi ihre Terrasse, die Rosen und bunten Blumen, die sie in groÃen Steintöpfen gepflanzt hatte. Die Stühle waren elegant, aber bequem, die Sonnenschirme â darauf hatte sie besonderen Wert gelegt â frei von Werbung. Auch der Innenraum war gelungen: Eine Holzverkleidung aus der alten Fahrradwerkstatt war freigelegt worden und kontrastierte auf wunderbare Weise mit dem modernen Dekor. Alles, bis hin zur Hintergrundmusik, wirkte frisch und ansprechend. Die örtliche Presse war gekommen, einige Fotografen, es kamen Leute aus den Firmen, die ihr beim Ausbau geholfen hatten, Freunde und Nachbarn, selbst ein paar Amts- und Würdenträger. Jacek brachte seine jungen Freunde mit. Es war ein gelungener, ein groÃartiger Start in Sissis neues Leben.
** Das
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