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Vom Wahn zur Tat

Vom Wahn zur Tat

Titel: Vom Wahn zur Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stompe
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S. übergab die Waffe dem Bahnhofsvorsteher und wurde von der Polizei noch am Tatort festgenommen.
    So endete der Fall tragisch. S. selbst war, wenn man ihm später in seiner Zeit als Maßnahmenpatient in der Justizanstalt Göllersdorf begegnete, ein sehr freundlicher Mensch. Sein Schnurrbart regierte direkt unter einer Nasenplastik, Folge eines Sturzes mit Erfrierungen an der Nasenspitze, weswegen S. sich auch Zeit seines restlichen Lebens nicht mehr als ausreichend attraktiv für Frauen empfand. Allein, wenn die Rede auf seine Tat und den sie begründenden Wahn kam, wurde seine Haltung starr, seine Stimme bekam einen anderen Klang. Ansonsten wirkte er zwar etwas verschroben, war aber sehr höflich.
    Die Tat von S. gründet in einer paranoiden Schizophrenie. Der Fall selbst verläuft prototypisch: Der spätere Täter weiß sich verfolgt. Alle Handlungen und Gesten, so die Wahnvorstellung, deuten auf ihn, er ist das Ziel der Verfolger. S. hat sich einen Wahn zusammengesponnen, der im Innersten nicht sehr logisch ist. Es fällt hier, wie auch bei den meisten anderen psychotischen Patienten auf, dass im Kern jedes schizophrenen Wahns eine Idee der Größe steckt: Großer Aufwand wird betrieben, um den Betroffenen zur Strecke zu bringen. Alle Augen richten sich auf ihn, Netze und Intrigen werden gesponnen. Bald werden, so die Wahnvorstellung, die Verfolger zuschlagen, wenn er ihnen nicht zuvorkommt. Die Frage, ob er wirklich so wichtig ist, dass sich der Aufwand für die Verfolger lohnt, stellt sich nicht mehr.
    Die Geschichte von Herrn S. begann unauffällig. Er stammt aus einer Familie mit zwei jüngeren Brüdern, der Vater war ein kleiner Beamter. Alles sehr ordentlich. S. studierte Französisch und Geschichte und schloss mit dem Doktortitel ab. Er ging nach Tirol, wo er drei Jahre als Lehrer arbeitete. Danach trat er in ein Kloster ein. Er habe sich bereits seit längerer Zeit für Religion interessiert, gab er später an. Er war früher Ministrant und Organist. Während dieser Zeit begann er ein Theologiestudium, das er aber nie abschloss. Nach vier Jahren verließ er das Kloster. „Ihm sei seine eigenbrötlerische Art und seine mangelnde Verankerung in der Gemeinschaft der Brüder vorgeworfen worden“, heißt es in den ärztlichen Aufzeichnungen. „Soweit erkennbar, dürfte der Patient bereits seit der Jugend kontaktarm, introvertiert und konfliktscheu gewesen sein.“
    Auf diesen Bruch folgte ein Akademikertraining und ein Karenzposten an einer Handelsakademie in Niederösterreich. Die Stelle lief nach sechs Monaten aus und wurde nicht verlängert. Vor der Tat war S. acht Jahre lang arbeitslos, abgesehen von Gelegenheitsarbeiten wie Übersetzungen. Er fühlte sich sozial ausgeschlossen. Bis zum Ende seiner ersten Lehrertätigkeit war S. sozial integriert. Der kontinuierliche soziale Abstieg stand wohl schon im Zusammenhang mit dem Fortschreiten der (unbehandelten) psychotischen Erkrankung. S. war allerdings nicht besonders auffällig, er lebte sehr zurückgezogen.
    Einige Monate vor der Tat entwickelte sich bei Wolfgang S. die wahnhafte Gewissheit, von asiatischen Zeitungskolporteuren belästigt und verfolgt zu werden. Es sind keine wesentlichen Auslöser für den sich entwickelnden Wahn erkennbar. Als Aufbauelemente fungierten Interpretationen, Erinnerungsfälschungen sowie wahnhafte Personenverkennungen. So heißt es in seiner Akte: „Durch das Verhalten der Zeitungskolporteure, die ihn andauernd angesprochen hätten, sich vor allem durch geräuschvolles Spuckesammeln, Anhusten und ‚Ansingen‘ provokant benommen hätten, habe er den Eindruck eines gegen ihn gerichteten Komplottes bekommen. In ihm habe sich ein zunehmendes Gefühl der Bedrohung und der Aggression entwickelt. Das Motiv seiner Gegner habe er nicht gekannt, möglicherweise hätten sie sich wegen seiner Beschwerden an die Eisenbahnerbehörden oder wegen seiner Einstellung gegen exotische Einwanderer gegen ihn gewandt.“
    Wegen dieser vermeintlichen Belästigungen in der S-Bahn zum Flughafen beschwerte er sich zweimal bei den Bahnbehörden. Danach war es kurzfristig besser, die Kolporteure wichen ihm aus. Nach einiger Zeit nahm das Kesseltreiben gegen ihn wieder zu, er fühlte sich wieder mehr beschattet. Zum Schlüsselerlebnis wurde die Begegnung mit einem Zeitungsverkäufer, der sich nur wenige Zentimeter von seinen Zehenspitzen vor ihm aufbaute. S. fühlte sich massiv bedroht und war zornig.
    Er konnte den Gefahren nicht ausweichen. Er

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