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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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es nur mich und diese seltsam fiebrigen Gefühle, die mich zu beherrschen begannen und das Interesse für Mädchen weckten. Alte Menschen nahm ich gar nicht wahr.
    Als junger, 22-jähriger Student beobachtete ich auf einem Sommerfest, wie ein Enddreißiger – mit einer Flasche Bier in der Hand an einer Hauswand lehnend – sich betrank und irgendwann zu Boden sackte. Alt kam er mir vor, und ich war pikiert, weil hier ein Erwachsener auf unserer Fete neben der Spur war, obwohl ich ja selbst auch bereits erwachsen und irgendwann auch betrunken war.
    Mit 40, als Familienvater und im Beruf stehend, sprachen mich die Älteren auf Veranstaltungen oft mit „Junger Mann“ an, obwohl ich mich manchmal doch schon so alt fühlte.
    Zehn Jahre später begann ich zu begreifen, dass es einen Horizont gibt, und ich sah ihn in den Alten und Gebrechlichen, in den Altersheimen und jetzt auch in meinem 92-jährigen Vater, der immer weniger wird. Er ist in der Phase des Abschieds. Danach kommt nichts mehr, außer dass man den Horizont unwiderruflich überschreitet und diese Welt verlässt.
    Nun, da ich fast 60 bin, ist diese Perspektive ein Teil meines Lebens. Ich kann nicht mehr so tun, als beträfe das Älterwerden mich und meinen Partner nicht. Es beunruhigt mich. Ich will nicht wahrhaben, dass das körperliche Begehren und Begehrtwerden abnimmt, hat es doch so viel Raum in meinem Leben eingenommen. Es macht mir manchmal mehr Angst als der Tod, und ich glaube, ich stehe damit nicht alleine.
    Und doch sind alt sein und sich alt fühlen ja auch bis zu einem gewissen Grade zwei verschiedene Dinge, und ab wann ist man eigentlich alt? Bin ich es jetzt schon oder werde ich es erst noch?
    Du kannst über das Leben jammern, oder du kannst es hinnehmen, wie es ist – alt wirst du in beiden Fällen. Wenn du aber immer nur jammerst, hast du nichts vom Leben. So einfach ist das. Alt zu werden ist aber auch eine Gnade, wenn ich an all die viel zu früh Gestorbenen denke. Nur, es hat eben seinen Preis, und wenn ich den nicht zahlen will, muss ich mich vom Acker machen. Auch wieder ganz einfach.
    Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, sollte man eigentlich wissen, wie der Mensch tickt, und das ist durchaus ein Vorteil, denn man wird dadurch freier. Früher hatte ich Respekt vor Menschen, die Positionen bekleideten, vor Landräten, Richtern, Abgeordneten, Pastoren, Direktoren, Politikern – Menschen, von denen ich glaubte, dass sie etwas leisten und Verantwortung tragen würden. Heute habe ich nur noch Respekt vor Menschen mit Charakter, vor Persönlichkeiten, die authentisch sind und Achtung vor dem Leben haben. Das macht vieles leichter, man lebt, wie gesagt, freier und klarer, vorausgesetzt, man weiß, wer man ist und wo man steht, und dazu braucht es eine Menge Lebenszeit. Wenn man älter geworden ist, hat man viel davon durchmessen und so manches, vor dem ein junger Mensch zum ersten Mal steht, hat man durchlebt und ist hoffentlich daran gewachsen.
    In einem Kaufhaus erhalte ich schließlich einen Packbeutel, Zahnpasta und einen Einwegrasierer, in einer Apotheke Pflaster und Mirfulan und im Tabakladen eine neue Schachtel Zigarillos. Dann geht’s wieder zurück zum Hotel und ab ins Bett: schlafen, schlafen, ausruhen.
    Ich spüre meine Knochen und meine lädierte Ferse. Diese über einen Monat dauernde Belastung hat Spuren hinterlassen. Mein Körper ist müde. Doch das Wandern ist mir ans Herz gewachsen wie eine Berufung. Trotz zunehmender Sehnsucht nach meiner Frau habe ich noch nicht das Bedürfnis, den Alltag, so wie er war, wieder aufzunehmen.
    Auf Martins Zimmer nehmen wir zwischendurch in der Badewanne ein gemeinsames Fußbad. Als die Hornhaut an meinen Füßen so richtig weich ist, beschließe ich, eine zweite Operation mit der Nagelschere an meiner rechten Ferse durchzuführen. Die Spannung und der Druck lassen sich zwar aushalten, aber es nervt – mal mehr, mal weniger. Beherzt steche ich zu und unterdrücke den Schmerz, bis ich meine, tief genug eingedrungen zu sein. Und tatsächlich sickert aus der Wunde ein stinkendes, weißliches Gebräu. Ich drücke und drücke, bis mir fast schwarz vor Augen wird. Die Erleichterung danach ist herrlich, die Spannung ist raus. In meinem Zimmer behandele ich den Fuß nach und döse dann in den Abend hinein.
    Zum Ausklang des Tages sitzen wir nach unserer Abendmahlzeit im Biergarten des Hotels und unterhalten uns mit der Wirtin. Gerne würde auch sie mal länger wandern, aber mehr als acht bis

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