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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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KM
    Mitten in der Nacht erwache ich und höre Martins ängstliche Stimme: „Wolfgang, Wolfgang, siehst du das auch dahinten, was ist das?“
    Ich richte mich auf und sehe, wie es über den ganzen Horizont wetterleuchtet. Der Himmel flackert gespenstisch im Widerschein der Blitze, und man sieht die Konturen der Wolken über den schwarzen Bergen, die aus der Dunkelheit auftauchen und gleich wieder verschwinden. Es herrscht Totenstille, kein Donner, kein Grollen, nichts. Von unserem exponierten Platz aus haben wir einen phantastischen Blick auf dieses Naturschauspiel, es ist großartig und unheimlich zugleich.
    „Das ist Gamashman, Martin, der tanzt dort auf den Wolken, über dem flackernden Feuer, das er mit seinen furchtbaren Blitzen entfacht hat. Die Trommeln schweigen schon, die Schlacht ist geschlagen!“
    „Was sagst du?“
    Ich will ihn nicht weiter ängstigen, etwas mulmig ist mir auch zumute.
    „Bleib ruhig, dahinten gewittert es. Es ist ganz weit entfernt, mindesten 20 Kilometer, sonst würde man den Donner hören.“
    „Bist du sicher, und wenn das hierher zieht?“
    Martin hat echt Schiss, und ich weiß auch nicht, ob uns nicht doch ein Unwetter erwischen wird. Schwül ist es auf jeden Fall nach wie vor.
    „Über uns sind Sterne und keine Wolken, das Unwetter hat sich dort hinten ausgetobt. Hast du so was noch nie gesehen?“
    „Nee, hab ich nicht, das ist ja unheimlich!“
    „Das wird schon, Martin. Ich sag dir Bescheid, wenn’s donnert.“
    „Hä?“
    Dann muss er doch lachen und legt sich wieder hin.
    „Wenn du mich beschützt, mein Wanderbruder, dann kann ich ja ruhig schlafen.“
    „Das ist das Beste, was du tun kannst, Martin. Schlaf gut!“
    Wenig später sägt er wieder friedlich. Unglaublich, wie schnell der einpennen kann!
    Ich überlege, ob es nicht doch besser wäre, sich in den Wald zurückzuziehen. Aber das ist alles viel zu aufwendig, und mit diesen Gedanken schlafe ich ein.
    Es ist immer noch dunkel, als ich plötzlich einen Schlag auf meine Brust verspüre. Geschockt fahre ich hoch und fahre panisch mit dem Handrücken über die Stelle, erwische irgendetwas Weiches, das sich halb aus eigener Kraft und halb durch die Wucht meiner Handbewegung davonmacht. Was war das? Mir stehen die Haare zu Berge.
    Du lieber Gott, ich liege hier mit halbgeöffnetem Schlafsack! Wer weiß, was hier alles rumkreucht: Mäuse, Kröten oder gar eine Schlange! Uah! Sind die eigentlich nachtaktiv? Keine Ahnung! Ich taste nach meiner Taschenlampe und leuchte um mich. Aber ich kann nichts entdecken, starre eine Weile in die Dunkelheit, unfähig, irgendetwas weiter zu tun. Endlich raffe ich mich auf, ziehe den Schlafsack bis obenhin zu und lege mich wieder hin.
    Irgendwie muss ich schlafen, sonst wird’s bitter morgen.
    Immerhin hat das Wetterleuchten abgenommen. Langsam werde ich ruhiger, und irgendwann übermannt mich die Müdigkeit.
    Mehrmals wache ich auf, liege neben der Matratze, kann mein Kopfkissen nicht finden. Am schlimmsten aber ist die Hitze im Schlafsack. Gegen morgen halte ich es nicht mehr aus, ziehe den Reißverschluss so weit runter, dass ich ein Bein rausstrecken kann, rolle mich auf die Seite und ergebe mich in mein Schicksal.
    Ich erwache mit Kopfschmerzen und fühle mich vollkommen gerädert. Nichts ist geblieben von dem Zauber des gestrigen Abends.
    Missmutig quäle ich mich zum Frühstück, fünf Kilometer werden es sein bis Wolfsbronn. Dort erwartet man uns. Wir haben das gestern noch klargemacht, mit dem Handy, und das war gut so. Das einzige Lokal dort macht nämlich erst am Nachmittag auf, aber die Wirtin will auf uns warten.
    Wie immer sind wir früh unterwegs, und wie immer ist es still und einsam an diesen Morgen nach einer Übernachtung im Freien. Es ist die erste Stunde eines meist zehnstündigen Arbeitstages. Tatsächlich – manchmal ist es wirklich genau das.
    Eine Stunde vergeht. Bald muss das Dorf auftauchen.
    Wir gelangen an ein Bächlein, das in einer kunstvoll geformten Rinne den Hang hinabfließt. Bis zu eineinhalb Meter hoch und über 100 Meter lang ist der moosbewachsene, schmale Wall, auf dessen Grat die Rinne verläuft – eine „Steinerne Rinne“, die die Natur über Jahrtausende geschaffen hat. Sie entsteht durch Abscheidung von Kalk aus fließendem Wasser. Dadurch erhöht sich das Bachbett und wächst nach und nach zu dieser Größe. Wenn man davon nicht weiß, glaubt man, vor einem alten Bewässerungssystem zu stehen oder einer Pinkelrinne aus den Zeiten

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