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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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Himmel, 22 Grad und ein Straßenzug, der so beliebig und langweilig ist wie die Werbebeilage in der Tageszeitung. Hätte ich ein Zuhause, würde ich hier niemals sitzen.
    Mir kommt das sehr entgegen, dass sich die Proviantaufnahme für die Freilandübernachtung schwierig gestaltet. Ich fühle mich dazu nicht bereit – das erste Mal übrigens. Mein Haxen wummert, und ich fürchte, dass eine Nacht mit wenig Schlaf mir morgen zusätzliche Probleme schafft. Mal seh’n, was wird.
    Ich schnappe mir meinen Wanderstock und begutachte den Schaden. Das Feststellgewinde ist hinüber. Das darf doch nicht wahr sein.
    „Kleb das doch“, sagt Martin.
    „Wie kleben? Hast du Uhu mit?“
    „Mit deinem Tapeband! Das hast du doch neulich für deine Füße gekauft.“
    Der Mann hat Ideen, Donnerwetter!
    Ich justiere die Höhe und pflastere mehrere Lagen von dem Band um die Einschubstelle, und siehe da, es hält, auch wenn ich mich richtig aufstütze. Wunderbar, ich habe wieder zwei Stöcker. Das war das erste positive Ereignis an diesem Tag, und ich kann mich richtig freuen.
    Der Nachmittag neigt sich, und wir sind wieder unterwegs, umfangen von der Monotonie der Westlichen Wälder Augsburgs. Ich muss mich zusammenreißen, die Schmerzen haben sich über den ganzen rechten Fuß ausgebreitet, weil ich ihn falsch belaste, um die Ferse zu schonen. Den linken Fuß spüre ich nicht, er ist so leicht wie eine Feder, doch der rechte stampft in den Asphalt, und es fühlt sich an, als wenn ich mit offener Sohle laufen würde.
    Herrjemine, nun tritt das wieder ein, was ich für abgehakt hielt: Schmerzen, die einem die Aufmerksamkeit rauben, das Ringen um Durchhaltekraft, der Kampf gegen die Resignation – das Wandern als Folter.
    Im nächsten Ort hocke ich mich auf eine niedrige Mauer am Straßenrand und lasse den Kopf hängen. Martin macht sich auf, um nach einer Übernachtungsmöglichkeit in einem Gasthof in der Nähe zu fragen. Ich habe mir den Gedanken, draußen zu schlafen, für heute abgeschminkt.
    Da sitze ich nun direkt an der Straße, knete meinen lädierten Fuß und blase Trübsal. Bin kaputt und fühle mich um zehn Jahre gealtert. Das wird doch wohl nicht böse enden? Ich fotografiere mein Gesicht, will sehen, wie ich aussehe. Nicht gut! An den Schläfen quellen die Adern hervor, doppelstöckige Tränensäcke unter den Augen, die so trüb sind wie die eines Greises, ein vor Anstrengung hochroter Kopf, um die Nase tiefe Furchen. In der Tat, Wolfgang, du siehst scheiße aus. Da sind sie wieder, die bitteren Momente einer Wanderung, an die man vor der Tour Gott sei Dank nicht denkt. Wenn ich jetzt ein Resümee ziehe, dann besteht der Weg aus einem Drittel Anstrengung, einem Drittel großartiger Erlebnisse und zu einem Drittel aus dem Alltag des Wanderns.
    Martin kommt zurück, im Schlepptau einen älteren Herrn und eine junge Frau – Vater und Tochter, wie sich herausstellt. Sie haben telefoniert und vier Kilometer weiter, in Oggenhof, eine Unterkunft gefunden. Bis dahin werde ich es wohl noch schaffen. Die Uhr zeigt 18:20.
    Über den bedeckten Himmel ziehen schwarze, tiefhängende Wolken. Wie ein Dach begrenzen sie den Raum über dem in ein unwirkliches Zwielicht getauchten Land. Vor uns, auf einer Erhebung, ein einzelner Baum. Ausgehend von seiner Krone streckt sich in einem breiten Winkel eine pechschwarze Wolkenformation auf uns zu. Es ist, als entfliehe, gleich dem Geist aus der Flasche, ein Wesen dem Baum und entfalte sein schwarzes Gewand, um das Land unter sich zu begraben. Nur im Westen, fern am Horizont, steht ein Fenster, durch das goldgelb das Sonnenlicht bricht und sich hinter einem dunklen Streifen Fichtenwald verliert.
    Gebannt betrachte ich das Bild und vergesse für einen Moment all meine Pein.
    Endlich, gegen halb acht, erreichen wir eine große, alte Villa – unser Nachtquartier. Eine Treppe führt hinauf zum Eingang. Wir klingeln, jemand öffnet und lässt uns ein. Ein Kronleuchter verbreitet schummriges Licht in der gediegenen, mit dunklem Holz ausgeschlagenen Halle. Ein dunkler Boden, eine ebenso dunkle Treppe, die in den ersten Stock führt, und dunkle Bilder in alten, schweren Rahmen komplettieren den schwermütigen Charakter des Raumes. Es ist still wie in einer Kirche.
    Im ersten Stock finden wir unsere Unterkünfte. Räume, so groß wie kleine Tanzsäle, in ihrer Art wie die Eingangshalle: knarrende, dunkle Holzdielen, ein altes Ehebett, düstere Gemälde, ein uralter, schwerer Schrank. Keine

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