Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
stob er mit seinen Beinkleidern als Schutz vor der glühenden Lava über die wüste Erde und riss dabei tiefe Furchen in die Glutmassen, die als Täler erkalteten. Dabei schob er wie eine Bugwelle das heiße Magma vor sich her, welches sich zu schwindelerregenden Höhen auftürmte und als Gebirge zu Stein wurde. Später dann, in den Lüften, schuf er mit Blitz und Donner das Leben und mit seinem Schweiß, der in gewaltigen Strömen zur Erde rann, die Meere. Und heute erinnert uns der einstige Weltgestalter mit der Urgewalt jener Unwetter, die einst Leben schufen, daran, wessen Macht wir unterstehen.
Doch abseits der schweren Wetter, wenn in den Nächten der mondlose Sternenhimmel die Erde in ein geisterhaftes Schattenreich verwandelt, dann geht er um, stellt sich vor die Fenster der schlafenden Menschen und singt die sehnsuchtsvollen Lieder aus jenen Zeiten, als auch er einmal ein Mensch war, in einer Welt, die zuvor bestand, bevor die unsrige geschaffen wurde, aber ihr dennoch ähnelte. Mit seinem Gesang schenkt er den Menschen die guten Träume und lebt in ihnen wieder als einer der Ihren, und wer des Gamaschenmanns Gesang geträumt hat, der erwacht ohne eine einzige Erinnerung aus tiefem und erquickendem Schlaf. Was bleibt, ist ein stilles Ahnen von einer Macht, die größer ist als alles, was in dieser Welt existiert.
Immer wieder während des Wanderns komme ich auf Gamashman (sprich Gämäschmän), wie ich ihn auch nenne, zurück. Bilde Reime, kleine Geschichten – Geschichten wie diese:
Gamashman war müde nach getaner Arbeit. Er hatte einen Baum gespalten, zwei Kühe erschlagen, eine Scheune in Brand gesetzt und einen unvorsichtigen Bergsteiger in die Hölle geschickt. Er liebte und hasste zugleich seine Bestimmung, die ihm nach seinem Tode von den Mächten zugewiesen wurde – bis an das Ende aller Zeiten. Er liebte es, Macht zu besitzen, auch Angst und Schrecken zu verbreiten und die Welt und die Menschen zu betrachten, hasste es aber, dabei den Tod mit sich führen zu müssen. Nur, wenn ihn jemand leibhaftig zu Gesicht bekommen und erkennen sollte, würde das seinen erlösenden, endgültigen Tod bedeuten, und ein anderer würde an seine Stelle treten. Aber wie sollte das geschehen, wenn er doch in den dunklen Wolken, die ihn stets begleiteten, verborgen blieb? Und in den mondlosen Nächten war er nur ein schattenloser Niemand.
Jetzt, da seine Arbeit getan, streifte er das schwere Wolkenkleid ab und ging in die mondlose, sternenklare Nacht hinaus. Traurig und einsam gelangte er vor ein abgelegenes Haus am Rande eines Dorfes und wollte schon mit seinem Gesang beginnen, als er bemerkte, dass ein Fenster im Erdgeschoss nicht verschlossen war. Vorsichtig näherte er sich und berührte mit den Fingerspitzen einer Hand den inneren Rahmen und drückte ihn nach außen. Das Fenster öffnete sich lautlos, und Gamashman kletterte geräuschlos über den niedrigen Sims in das angrenzende Zimmer. In einem kleinen Bett schlief ein Kind, ein Mädchen, von einem Liebreiz, der sein Innerstes berührte. Gefesselt von ihrer Unschuld und Hilflosigkeit beugte er sich über sie und begann leise und innig zu singen. Ein Lied aus seiner Kindheit kam ihm über die Lippen, so schön und zart, wie es bisher noch nie jemand vernommen hatte.
Statt aber zu träumen, schlug das Mädchen die Augen auf und starrte dem Fremden ins Gesicht. Ein Schrei aus tiefster Seele wollte sich ihr entringen. Doch der Gesang war so überirdisch, dass er ihr auf den Lippen erstarb. Sie vergaß alle Furcht und fasste Vertrauen. Als er zu Ende gesungen hatte, erzählte er ihr seine Geschichte, erwähnte aber nicht, dass er sterben würde, wenn sie seinen Namen nannte. Zum Abschied sang er noch einmal, himmlischer als zuvor, und die Augenlider des Kindes schlossen sich sanft. Bevor es jedoch der Schlaf übermannte, lächelte es zart und sprach mit verlöschender Stimme: „Komm bald wieder, Gamaschenmann.“
Seit diesem Ereignis gab es nie wieder ein Gewitter in jenem Dorf. Immer zog es vorbei und entlud sich in anderen Gegenden. Das Mädchen aber behielt alles in Erinnerung, so, als wenn sie es geträumt hätte. In den mondlosen, sternenklaren Nächten sang sie von nun an mit engelsgleicher, glockenheller Stimme das Lied vom Gamaschenmann, so innig und entrückt, dass die Menschen im Schlaf seufzten und in ihren Träumen vor Rührung weinten.
Vor uns liegt der Staffelberg, die Krone Frankens. Wie eine Insel ragt er bis zu 280 Meter aus dem Maintal.
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