Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
Vom Netzwerk:
gibt mir Frieden.

F ERNAB DER W ELT
    DIENSTAG, 20. MAI
ENGELHARDSBERG – LEIENFELS (FRÄNKISCHE SCHWEIZ), 30 KM
    Um halb sieben schlägt der Gong über dem taunassen Tal. Ich setze mich auf, genieße die wärmenden Strahlen der Sonne, schaue versonnen ins Land und spüre dem Gefühl von gestern Abend nach. Wie lange liegt der Abschied von meiner Frau zurück? So viele Tage und Nächte sind vergangen, summieren sich zu Wochen und fühlen sich an wie Monate. Würde sie jetzt gerne um mich haben, ihr fröhliches Lachen hören, sie in den Arm nehmen und mit ihr den Tag verbringen. Ich verspüre ein Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit. Mein sexuelles Verlangen ist eher gering ausgeprägt. Ich habe es mir im wahrsten Sinne des Wortes weggetreten. Die tägliche Anstrengung verdrängt die Lust, nur selten drehen sich meine Gedanken um Sex, und am Abend bin ich einfach nur kaputt und müde.
    So hat man einmal eine Phase in seinem erwachsenen Leben, in der Sexualität eine nur untergeordnete Rolle spielt, und man vermisst sie dann auch nicht. Für einen Mann ist das schon eine enorme Leistung. Vielleicht sollten Priester ständig von einer Kirche zur anderen wandern – und man achte darauf, dass sie ordentlich weit auseinander liegen. Damit ist die katholische Kirche nicht wirklich lebensnäher, aber den armen Popen wird der Druck genommen.
    Ich löse mich von meinen Gedanken und beginne nun auch mit dem Tagewerk: austreten, Zähne putzen, packen und einen beinharten Powerriegel kauen, der mir fast die Zähne aus dem Mund bricht. Um sieben geht es auf die Piste, in einen wunderschönen Maientag hinein.
    Unser schmaler Pfad führt wie gestern über Treppen, kleine Brücken, gesicherte Steige, vorbei an Abgründen und hohen, schroffen Felswänden – auf und ab. Windet sich durch Höhlen, die hin und wieder wie durch ein Fenster den Blick in den Wald freigeben, und führt in enge, von Dolomitgestein umschlossene Kessel. Das Rauschen der Wiesent begleitet uns, und ab und zu erhaschen wir einen Blick auf das smaragdgrüne Wasser des Baches.
    Wir stehen vor einer Felswand, die sich im Halbbogen vor uns öffnet. Sie ist verkarstet und wirkt mit ihren vielen, unterschiedlich großen, höhlenartigen Öffnungen und Vorsprüngen wie die Fassade einer in den Fels gehauenen Burg. Auf Stufen führt ein Weg hinab in ihr Inneres. In einer der Nischen nehme ich eine Silhouette wahr – als ob dort jemand säße und mich anschauen würde, klein und geduckt wie ein Zwerg. Verstohlen blicke ich mich um, kneife die Augen zusammen und lausche in den Wald hinein. Martin ist bereits voraus und im Felsen verschwunden.
    Je mehr ich mich auf die Wand vor mir und den Wald konzentriere, desto lebendiger wird alles. Immer mehr Schatten bewegen sich in den höhlenartigen Vertiefungen. Wie ihr Ächzen klingt das knarrende Schaben aneinander sich reibender Baumstämme, während mich der Zwerg dort oben unablässig beobachtet. Zögernd betrete ich den Felsen und steige einen Gang hinab. Es ist dämmrig, und ein kühler Hauch, wie aus einer Gruft, weht mir entgegen. Eine letzte Biegung, und ich stehe am Eingang eines Saales. Die Wände sind moosbehangen, wie mit grünen Wandteppichen beschlagen. Durch einen schmalen Spalt fällt ein wenig Licht, und in dem Halbdunkel irrlichtern geisterhafte Schatten, deren Heulen und Klagen der Wind durch die Schlote im Fels hinaus ins Freie trägt.
    Vielleicht sind es die Opfer des Gamaschenmannes, die hier versammelt sind und nicht zur Ruhe kommen, weil sie keinen Abschied nehmen konnten und deshalb in dieser Zwischenwelt verharren müssen, Tag und Nacht, bewacht von dem Zwerg dort oben, bis sie in den Träumen ihrer Hinterbliebenen wiederauferstehen und weiterleben. Und wenn in den Herbstnächten die Stürme übers Land fegen, dann hören auch die Menschen weitab von diesem Ort ihr Jammern als das Heulen des Windes in den Kaminen ihrer Häuser.
    Wenig später trete ich auf der Rückseite des gewaltigen Felsens hinaus in den lichtdurchfluteten Wald. Mein Wanderbruder lehnt an einem Baum und justiert akribisch seine Stöcker. Wie weggeblasen ist der Zauber. Für einen kurzen Moment war ich wieder auf der anderen Seite, in der Fabelwelt der Märchen. Es ist nur ein winziger Schritt, der von den Dingen um uns herum zu ihr führt: die schrundige Felsmauer mit ihren Vorsprüngen und Vertiefungen, das flirrende Spiel von Licht und Schatten, der dunkle Gang durch den Felsen, die Höhle in seinem Inneren, in die durch eine

Weitere Kostenlose Bücher