Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
Vom Netzwerk:
die Uhr zeigt sieben. Wir marschieren auf der anderen Seite den Berg hinunter, durch einen kleinen Ort auf den Waldrand zu. Diesmal fällt uns unser Schlafplatz sozusagen vor die Füße. An einem sanften Hang, direkt am Waldrand, nicht unweit des Dorfes, liegt eine Streuobstwiese, die im oberen Bereich zum Wald hin eben ausläuft. Wir sind seit elf Stunden auf den Beinen, und hier lässt es sich einrichten.
    Wie herrlich ist der Moment, wenn ich mich schließlich auf meinem Schlafsack niederlasse – um uns das weite Land, über uns der hohe Himmel, umgeben und beschützt von einer sanften Dämmerung. Wir lachen und scherzen miteinander, prosten einander zu, sitzen dann wieder still da und schauen. Sind in diesen Momenten einander zugetan wie zwei Menschen, die ähnlich fühlen. Hier bin ich in jener Welt, nach der ich mich immer sehne, wenn mir der Alltag quer im Magen liegt, wenn ich der Routine überdrüssig bin. Hier hat alles eine einfache, klare Bestimmung, steht am rechten Platz und harmoniert miteinander: der Berg jenseits des flachen Tales, die Wiese vor uns, der Wald, der Himmel, das Konzert der Vögel und auch wir beide. Eine Welt ohne Schwere, voller Langmut und Gelassenheit und an manchen Tagen erfüllt von stiller Heiterkeit. Ein Stück Paradies – nur für eine kurze Zeit, aber genug, um glücklich zu sein.
    Martin schläft bereits. Die Vogelstimmen ersterben. Es ist wie das Ausklingen eines Adagios einer Sinfonie: Am Ende steht ein Ton, ganz zart und leise, und verschwindet in der Stille. Die Zweige der Bäume über mir bilden ein schwarzes Mosaik gegen den Himmel. Ich sehe Gesichter, Figuren: dort eine junge Frau mit einem Hut, die Augen übergroß und der Mund leicht geöffnet. Traumgleich kommt die Nacht daher, und ich fühle mich ihr und der Natur so verbunden, als sei ich schon ewig ein Teil dieser Welt.

    Wenn alles schweigt
Und nur der Wind noch flüstert,
Wie warmer Hauch dich sanft berührt,
Wenn über dir der Himmel
Von tausenden von Sternen glitzert,
Dich diese Welt zu ihrem Ursprung führt.
Wenn du vernimmst des Klanges wundersame Stille,
Der in dir ruht und immer währt,
Dann ist’s, als ob der Zauber ew’gen Lebens Dein Herz, deine Seele, dein Sein berührt.

S O WEIT DIE F ÜSSE TRAGEN
    FREITAG, 23. MAI
SIE G ERSD O RF – ALTD O RF (FRÄNKIS C HE ALB/ÖSTL. NÜRNBER G ), 35 KM
    Bereits um Viertel nach sieben in der Frühe sind wir wieder auf den Beinen und unterwegs – wie immer nach solchen Übernachtungen unausgeschlafen und schweigsam. Ein schmaler Weg führt uns durch dichten Wald und beginnt bald zu steigen, immer höher, immer höher. Ich stapfe voran und kann nicht behaupten, dass es mir leicht fällt. Hunger und Müdigkeit machen mir zu schaffen. Schon bald krieche ich auf dem Zahnfleisch und verfluche den Morgen. Über 250 Meter sind wir jetzt schon angestiegen, und kein Ende ist in Sicht. Verstohlen schaue ich mich nach Martin um. Ich will mich vergewissern, wie es ihm geht. Mit hochrotem, gesenktem Kopf und schweratmend schiebt er sich den Hang hinauf. Freudiges Wandern sieht anders aus. Das beruhigt mich. Ich brauche jetzt auch keinen fröhlichen Kumpel hinter mir, sondern einen Leidensgenossen – das macht es irgendwie einfacher, helfen tut es aber auch nicht.
    Endlich haben wir den ersten Berg, den Glatzenstein, geschafft. Er hat alles, was einen Berg ausmacht, nur keine Glatze. Eine freie Stelle, von der aus man ins Land schauen könnte, finden wir jedenfalls nicht und sind, ehrlich gesagt, auch zu kaputt, um den auf der Karte eingezeichneten Aussichtspunkt zu suchen. So steigen wir wieder ab und stehen vor dem nächsten Anstieg. Hilfesuchend blicke ich nach oben.

    Lieber Herrgott, bereite dem ein Ende.
Schenke uns einen ebenen Weg und eine Einkehr
mit einem opulenten Frühstück.
Mach es uns doch nicht so schwer!
    Das Stoßgebet ändert natürlich nichts, und mit vor Anstrengung hervorquellenden Augen nehmen wir mit Ach und Krach die nächste Höhe, die jemand mit dem seltsamen Namen Großer Hansgörgl bedacht hat. Immerhin – das ist mal eine Bezeichnung für einen Berg. Nicht einfach nur Zugspitze, Wasserkuppe oder Feldberg, obwohl „Großer Kotzbrocken“ mir jetzt am besten gefallen würde.
    Beim Abstieg nach Hersbruck an der Pegnitz leidet mein Wanderbruder Höllenqualen. Er muss eine Manschette um sein linkes Knie legen, um das Gelenk und die Sehnen zu stabilisieren. Wir kommen nur noch langsam voran.
    Nach zweieinhalb Stunden haben wir uns endlich bis

Weitere Kostenlose Bücher