Von den Sternen gekuesst
Vincent. Dann sieht er, dass meine schlimmste Wunde ein Schnitt am Oberarm ist, und gibt mir erleichtert einen schnellen Kuss. Wir sammeln uns und zählen die Leichen. Zehn tote Numa liegen am Boden. Ein paar weitere hatten sie bei der Flucht mitgenommen. Nicolas’ Leiche ist noch da, sein Pelzmantel blutgetränkt. Drei Bardia aus Arthurs Einheit sind tot. Und Ambrose sitzt an ein Schaufenster gelehnt da, die Wunde an seinem Arm blutet heftig. Charles und Charlotte kümmern sich um ihn.
Jemand fehlt , merke ich mit Schrecken. Schnell überfliege ich die Passage und schreie: »Geneviève! Wo ist Geneviève?« Entsetzt blicken wir uns nach ihr um. »Vorhin lag sie noch dort«, sage ich und deute an die Stelle, wo ich ihre Leiche zuletzt gesehen hatte.
Charlotte reißt erschrocken die Hände zum Mund. »Nein!«, schreit sie und rennt zum Ausgang, dicht gefolgt von Charles. Fieberhaft suchen sie die Straße ab, dabei ist völlig klar, dass, wer immer Geneviève mitgenommen hat, längst weg ist.
Die Zwillinge stehen nebeneinander in dem Torbogen, dunkle Silhouetten vor der hell erleuchteten Straße. Charlotte beginnt zu weinen und ihr Bruder schließt sie fest in die Arme.
S chon fünf Minuten später hält ein Rettungswagen vor der Passage und die Leichen werden eingeladen. »Nee, Mann, ich fahr da nicht mit«, protestiert Ambrose, der Vincents Aufforderung, sich in das Fahrzeug zu den Toten und Verletzten zu setzen, absolut nicht nachkommen will.
»So kannst du jedenfalls nicht nach Hause laufen. Und ein Taxi können wir auch nicht nehmen, das blutest du ja von oben bis unten voll«, sagt Vincent und hilft ihm auf die Füße.
»Ich begleite dich«, flüstert Charlotte fast.
Ambrose schaut zu ihr, Charles hält sie noch immer im Arm. Sie lächelt ihn traurig an und dann nickt er, gibt sich geschlagen. »Ja, okay.«
Vincent richtet seine Aufmerksamkeit nun auf mich. Ich schütze Louis mit meinem Körper vor den skeptischen Blicken von Charles’ Kumpeln aus Deutschland.
»Du bist ja noch hier«, sagt Vincent finster.
»Bin ich«, erwidert Louis und reckt ein bisschen das Kinn. Das ändert aber nichts daran, dass er wie ein verängstigter Teenager aussieht.
»Kate, würdest du mir bitte erklären, was da vorhin passiert ist?«, fragt Vincent.
Sieht ganz so aus , als könnte ich nicht nur mit volanten Revenants quasi telepathisch kommunizieren , richte ich gedanklich an ihn und er zuckt überrascht zusammen.
»Gut«, sagt Vincent, der verwundert den Kopf schüttelt. »Dann hast du ihm also telepathisch Amnestie angeboten?«
»Louis hat mir seine Geschichte erzählt, Vincent. Violette ist nicht die Einzige, die mit ihrem Schicksal gehadert hat und unglücklich war. Und Louis ist noch nicht lange dabei.«
»Sechs Monate«, wirft Louis ein und starrt mit feuerrotem Gesicht auf seine Schuhe.
»Was er getan hat, klingt zwar schrecklich«, sage ich, »aber er will diesen Weg nicht weiterverfolgen.«
Vincent legt den Kopf in den Nacken, als würde sich oberhalb der gläsernen Decke eine Antwort verbergen. »Kate, was erwartest du denn jetzt von mir? Ich verstehe nicht, worum du hier bittest.«
»Ich auch nicht«, gebe ich zu, »aber es ist die richtige Entscheidung, ihn bei uns aufzunehmen. Da musst du mir einfach trauen.«
Vincent sieht mich starr an, weiß nicht, was er darauf sagen soll. »Kate. Ich traue dir. Er ist derjenige, dem ich nicht traue«, erklärt er und senkt den Blick auf Louis, der sich mit verfinstertem Gesicht die Hände in die Hosentaschen steckt.
»Ich übernehme die volle Verantwortung für ihn«, sage ich. Vincent schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und wirkt, als wolle er sich die Haare ausreißen. Ein ersticktes Geräusch dringt aus seiner Kehle, während er weggeht. Er sagt etwas zu Arthur, als er auf seiner Höhe ist.
Arthur kommt zu uns. »Ich bin vorerst dein zweiter Schatten«, informiert er Louis. So, wie er neben ihm steht, macht er klar, dass er ihm nicht von der Seite weichen wird.
Während wir auf den Ausgang zusteuern, betrachtet Arthur den noch so jungen Louis auffällig. »Was ist?«, fragt dieser irgendwann.
»Du bist also Violettes neuer Gefährte«, stellt Arthur amüsiert fest. »Und nach sechs Monaten hast du schon die Nase voll von ihr? Bei mir hat das ein bisschen länger gedauert, so um die fünfhundert Jahre.« Louis klappt die Kinnlade herunter.
Ich lasse sie allein zurück, um zu Vincent aufzuschließen, der gerade mit der Anführerin der deutschen
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