Von der Wüste und vom Meer: Zwei Grenzgänger, eine Sehnsucht (German Edition)
Amerikanische Autos und Lastwagen überholten mich. Bettler traf ich auf freier Strecke. Und zum Ende hin kam der Regen.
Monsun. Vom Indischen Ozean kommend prasselten tagelang heftige Schauer nieder. Sie peitschten die Palmen, doch die Menschen freuten sich. Ich war weniger angetan und schlüpfte unter – in einem Bahnhof, einer Schule, Teestube oder einem Tempel.
Endlich angekommen in Bombay, quartierte ich mich im Bahnhof ein. Leider hatte mir jemand mein Portemonnaie aus der Gesäßtasche gestohlen. Da das ausgerechnet auf dem Hauptbahnhof (Victoria Station) passierte, wollte ich hier den geklauten Inhalt, 15 US-Dollar, »abwohnen«. Und es hat mich niemand daran gehindert, in der imposanten Kuppelkonstruktion mein Lager aufzuschlagen. Ich war ja in Indien, wo die meisten Reisenden ihr Hab und Gut (also Schlafutensilien) in Bündeln transportierten. Und wo in jeder Straße Menschen kampierten. Tagsüber irrte ich durch die Stadt. Meine Ziele: der Seemannsklub (wo es Eiswasser gab), der Strand (Chowpatty Beach, wo tote Fische ans Ufer schwappten und es nach Diesel, Öl und Abwasser roch), der Hafen (kaum Schiffe) und ein Zahnarzt (der mir einen ersten Backenzahn zog).
Kopfzerbrechen bereitete mir mein Rad. Ich fuhr praktisch auf blanken Felgen. Ohne neue Laufräder, Bereifung und Tretlager war kein Weiterfahren möglich. Dann stieß ich auf Ram, einen Radhändler, der mein Leben veränderte. Da ich nicht die Mittel für eine Reparatur hatte, tauschte ich mit ihm mein Rad gegen einen englischen Militärrucksack. Gebraucht, aber gut vernäht, mit aufgesetzten Taschen für die sogenannten Kleinigkeiten. Der Tausch erinnerte mich an Hans im Glück. Erst hatte ich das Zelt gegen Übernachtungen in Gabès eingetauscht, dann verschenkte ich Werkzeug und Luftmatratze (um Ballast abzuwerfen), das Sakko gab ich für Essbares her, Flanellhose, Socken, Wäsche landeten im Müll.
Nun reiste ich mit Gepäck, das ich unterm Arm hätte tragen können. Auch ich wurde leichter. Meine Geldbörse sowieso. Wie Hans im Glück rutschte mir in Bombay gewissermaßen alles in den Brunnen. Noch zählte ich ganze 20 US-Dollar mein eigen. Doch als ich in Deutschland startete, war es nicht wesentlich mehr gewesen: etwa 250 Mark, rund 50 Dollar.
Also ging es mit Trampen und Bahnfahren weiter. Indien rauf und runter: Kalkutta, Delhi, Agra, Jaipur, Bangalore. Der englische Rucksack förderte mein Vorankommen. Die Neugierde der Inder auf einen vermeintlich »zurückgebliebenen Engländer« war groß. Die Kolonialzeit war so lange nicht her.
Wenn ich mir als Jugendlicher vorstellte, irgendwo hinzufahren, dann wünschte ich mir immer den Süden. Eine einsame Küste, weiter Sandstrand, eine verlassene Schilfhütte am Wasser, Schwimmen im Meer und Tauchen, wo Fische mit der Hand zu greifen sind.
Gleich meine erste Fahrt brachte mich tatsächlich bis in den Süden Indiens. Beim Start hatte ich kein spezielles Bild vor Augen gehabt, wusste nur, dass dort die Menschen halb nackt und mit Turban herumliefen. Auch dachte ich an Elefanten und Tiger, mit denen ich mich »messen« wollte. Und an Maharadschas, die ganze Tempel voller Gold hatten. Keine schlechte Wahl und vor allem kein schlechtes Ziel. Diese Bilder im Kopf, setzte ich mich mit achtzehn aufs Fahrrad und stellte mir vor, dass ich über 10 000 Kilometer damit reisen werde, ohne mich um irgendwas kümmern zu müssen. Essen würde ich von den Bäumen pflücken, schlafen würde ich in meinem Zelt, Pause machen am Strand und in anderen schönen Ecken. Ich war wild und sehnte mich nach der Fremde. Ich hätte alles getan, um dorthin zu gelangen. Erst später begriff ich, dass manche Entfernungen unendlich weit sind, unter hochstehender, heißer Sonne und mit wenig Essen im Bauch, und dass ein Sandstrand meist nicht zu finden ist, wenn man ihn sich gerade wünscht.
Ich hatte verdammt viel Angst, dass mir mein Fahrrad gestohlen würde. Ohne Rad wäre ich ein Nichts gewesen. Man hätte mir die Luft zum Atmen genommen. Ohne (fast ohne) Geld hätte ich weder vor noch zurück gekonnt. Ich war also gebunden, und daher fühlte ich mich nicht wirklich frei. An so mancher Abzweigung fragte ich mich: »Wo bin ich? Welche Richtung muss ich einschlagen?« Die Sprache, die Schriften, die Gebräuche, alles war mir total fremd. Noch vor einem Jahr war »meine spannendste Welt« das Schwimmbad in unserem Dorf gewesen. Und jetzt? Meine Zeit ging drauf für Irrgänge jeglicher Art und den anstrengenden
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