Von der Wüste und vom Meer: Zwei Grenzgänger, eine Sehnsucht (German Edition)
Tanz. Die heftigen Windfurien flauten zu einem gelegentlichen Flüstern ab, und das ungestüme Rollen der Wellen ließ nach. Hinter uns waren die tiefhängenden Wolken noch schwarz, über uns grau – und weit voraus sah ich blasse Büschelwolken mit ersten Flecken. Dort dehnte sich die offene See bis zum Horizont. Ich konnte kaum glauben, dass wir mehr als fünfzehn Stunden im Unwetter gesteckt hatten. Alle an Bord waren todmüde und brauchten eine Portion Schlaf.
Es folgten azurblaue Tage mit langer und freundlicher Dünung, während das grelle Sonnenlicht helle Reflexe auf das Meer zauberte und das Auge gelegentlich unterschiedlichste Gestalten in die willkürlichen Muster von Wellen und Licht projizierte. Oft sah ich den Wellen zu, die den Rumpf der Dhau umspielten, und mir wurde klar: Wasser ist das Element der Wandlung, das sich in einem großen Formenreichtum zeigt: Da gibt es geriffelte Seekorridore, gischthelle Wogenzüge, spritziges Gestöber, schäumende Teppiche, kabbelige Dünung, schnaufende Wellenherden, endloses Gewoge – und vieles mehr. Ebenso abwechslungsreich ist auch die Farbe des Wassers. Zahllose Variationen von Blau, Grau und Grün zaubern unendliche Vielfarbigkeit, die auch der Sand der Wüste bietet.
Sand ist gelb, Wasser ist blau – aber niemals auf ein und dieselbe Weise.
Wenn ich an der hölzernen Reling der Dhau stand, konnte ich im blauen Wasser des Indischen Ozeans zuweilen riesige Fischschwärme in allen erdenklichen Formen und Farben ausmachen. Und wenn eines der Schleppnetze aus dem Meer gezogen wurde, sah ich auf dem Deck bizarre Fische, wie ich sie nie zuvor erblickt hatte: bunte Fische mit Fransen und Stacheln, mal quergestreift, mal längsgestreift. Fische, die aussahen wie platte Steine oder Schmetterlinge. Fische, die ich im Wasser meist nur für einen kurzen Moment zu Gesicht bekam, ehe sie in der Tiefe entschwanden.
Diese Tage empfand ich wie ein Gottesgeschenk. Tage, an denen sich das Meer von seiner besten Seite zeigte. Gleichförmig stieg und fiel die Dünung. Es war ein angenehm sanftes Atmen, und die schäumenden Wellen rollten ganz sacht in weißen Streifen heckwärts am Schiff vorbei. Die Crew hatte nun Zeit, um ihre Gebete und eindringlichen Gesänge mehrmals am Tag anzustimmen: »Allah akbar« (Allah ist groß), wobei sich die Männer auf den Schiffsplanken niederknieten, um zu beten. Sie verbeugten sich gen Norden, nach Mekka, wo der Meteorit Hadschar al-Aswad in der Kaaba, einem großen Kubus, bewahrt wird. Ein heiliger schwarzer Stein, den Abraham nach dem Glauben der Muslime einst vom Erzengel Gabriel erhielt.
Noch schöner als die sonnigen Tage waren aber die klaren Nächte. Dann lag ich an Deck auf einer Grasmatte und blickte zu den Myriaden von Sternen hinauf, die in der samtenen Dunkelheit wie Katzenaugen glitzerten. Ein leuchtender Nachthimmel, in dem die Milchstraße zum Greifen nahe war, während die schwarze, schweigende Weite des Indischen Ozeans mir wie ein Korridor der Zeit erschien, in dem die Jahrhunderte der Seefahrt verwehten.
Dann Sansibar. Die Entdeckung der berühmten Gewürzinsel geht auf die Bantus zurück, die vom Festland über eine längst versunkene Landverbindung zogen. Später kamen die Sumerer und Assyrer, Ägypter und Phönizier, Chinesen und Araber, Holländer und Briten. Alle erhofften sich Reichtum durch Gold, Gewürze und Sklaven. Und alle verewigten sich im geschichtlichen Inseltagebuch. Viele haben ihr Leben riskiert, um hier anzukommen, und viele haben es verloren. Denn Sansibar ist ein trügerisches Paradies, das mich an einen Satz des französischen Dichters Stéphane Mallarmé (1842–1898) erinnerte: Hütet euch vor den Sehnsüchten, die in Erfüllung gehen.
Östlich der Altstadt zog mich auf Sansibar das Haus eines guten alten Bekannten an, von dem ich alles gelesen hatte, was ich finden konnte. Da er aber schon weit über 100 Jahre tot ist, habe ich ihn nie kennengelernt. Ich meine den schottischen Arzt und Missionar David Livingstone (1813–1873). 30 Jahre lebte er in Zentralafrika, davon verbrachte er viele Monate auf Sansibar, wo er sich vehement gegen den Sklavenhandel einsetzte, dessen Spuren mir in Sansibar-Stadt vielerorts begegneten. Zum Beispiel das Haus von Hamed bin Muhammed bin Juma bin Rajad el Murjebi, kurz »Tippu-Tip« genannt. Dieser angesehene Kaufmann von arabisch-afrikanischer Herkunft galt als einer der berüchtigtsten Sklaven- und Elfenbeinhändler. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts
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