Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Kitty
als Arschgeweih tätowieren?«
Lily blickte verwirrt drein. »Wer ist denn Kitty?«
Naomi und ich starrten sie einen Moment an, dann seufzte Naomi auf. »Hat wenigstens Symbolik.«
»Stimmt.« Ich nickte. »Mir gefällt das Tattoo meines Vaters. Das sagt wirklich was aus.«
Naomi beugte sich plötzlich vor. »Wie sieht es denn aus?«
»Es besteht nur aus Wörtern:
Ou Theoi, monon Anthropoi
.«
»Ist das Latein oder was?«
»Das ist Altgriechisch«, antwortete Lily.
Wir starrten sie wieder an, dann drehte sich Naomi zu mir. »Und was bedeutet das?«
»Nicht Götter, nur Menschen.«
Naomi lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Wow, echt tiefsinnig.«
»Mein Vater ist auch ziemlich tiefsinnig«, sagte ich. »Wenn er nicht gerade Leute erschießt.«
[zurück]
I ch weiß nicht, wie lange ich es noch schaffe, so weiterzumachen wie bisher. Doktor Gilyard ist dabei, einen Weg in mein Inneres zu finden. Es ist, als würde ein Sturm aufziehen – ganz nah und drohend. Eilig habe ich sämtliche Fenster geschlossen und die Türen verriegelt, aber er kommt näher und näher, und ich weiß nicht, was ich tun soll.
Heute legte sie etwas auf den niedrigen Tisch zwischen uns, aber ich wagte nicht, hinzusehen, was es war.
»Was ist das?«
Schweigen.
»Ein weiterer Brief von Juliet?«
Schweigen.
»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass mir ihre Briefe egal sind.«
Schweigen.
»Okay.« Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme. »Sie wollen wohl wieder, dass es auf diese Tour läuft?«
Schweigen.
»Das kann ich auch.«
Schweigen.
»Ich habe dieses Spielchen nämlich erfunden.«
Ich starrte angestrengt auf den Riss in der Wand, um nicht doch auf den Tisch zu schauen, aber mein Blick wanderte hin und her – hin und her, hin und her, hin und her – zwischen dem Riss in der Wand und dem Tisch, wie das Pendel der alten Standuhr in St. Jude’s.
Ich habe bisher nur ein Mal versucht, das Rauchen aufzusgeben, und zwar nachdem die Großmutter meiner Freundin Olivia an Lungenkrebs gestorben war. Bis dahin hatte ich nicht geglaubt, eine echte Raucherin zu sein. Aber jetzt hielt ich es nur drei Tage ohne Zigaretten aus, dann kaufte ich mir eine Schachtel bei einer Mitschülerin, die in ihrem Zimmer damit einen kleinen Handel betrieb. Damals fühlte ich mich absolut zu nichts zu gebrauchen, als ich mich ins Badezimmer einsperrte und wieder eine Zigarette rauchte. Und so fühlte ich mich auch jetzt, als ich schließlich zum Tisch hinsah – zu nichts zu gebrauchen. Nutzlos und wertlos.
Mein Blick blieb nur einen Moment darauf haften, aber lange genug, um zu erkennen, dass es sich nicht um einen Brief handelte. Es war eine Fotografie. Sie war in der Mitte gefaltet, und ich konnte nur die Hälfte davon sehen. Aber Juliets lächelnder Mundwinkel und ihre zimtfarbene Wange, die sich an eine andere, blassere schmiegte, reichten aus – mein Herz begann wie eine Alarmglocke zu schrillen.
Ich kannte das Foto. Ich war dabei, als es aufgenommen wurde.
Jetzt starrte ich Doktor Gilyard an. »Tun Sie das nicht«, warnte ich sie und ballte die Hände.
Sie weiß es. Ich habe es ihr bei unserem ersten Treffen gesagt. Ich hab ihr gesagt, dass sie mich alles fragen konnte – alles –, nur bitte nicht nach ihm. Und das muss ich ihr lassen, sie hat es bisher auch nicht getan. Sie wühlt und stochert jetzt schon monatelang in mir herum, aber daran hat sie sich gehalten. Nicht einmal seinen Namen hat sie bisher genannt.
Ich schüttelte den Kopf, als sie sich jetzt vorbeugte und nach dem Foto griff. »Nein, bitte nicht«, sagte ich, als sie es aufklappte. »Nicht. Ich kann noch nicht.«
Wenn ich nur etwas Kontrolle über meinen Körper gehabt hätte, wäre ich aufgesprungen, hätte es ihr entrissen und in tausend Schnipsel zerfetzt. Aber meine Hände gehorchen mir nicht mehr so wie früher – meine Hände, mein Kopf, mein Herz –, deshalb saß ich nur wie erstarrt da und beobachtete, wie sie die Fotografie auf den Tisch zurücklegte.
Panik kroch in mir hoch, und als ich es endlich über mich brachte, das Bild anzuschauen, wäre ich beinahe zu einem schluchzenden Häufchen Elend auf dem Fußboden kollabiert.
Auf dem Foto war neben Juliet nicht er zu sehen, sondern ich.
Wenn ich noch weinen könnte, hätte ich es jetzt getan.
[zurück]
D ie Fotografie war wie eine Pistole, die mir Doktor Gilyard an die Schläfe hielt, mit dem Befehl, endlich zu reden.
Und deshalb redete ich in unserer
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