Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
entgegnete ich empört. »Mir war klar, dass sie mir nicht sofort ihr Herz ausschütten würde.«
Und das stimmte. Dass sie eines dieser quasseligen Mädchen sein würde, die einem mit endlosen Erzählungen aus ihrem Leben das Ohr abkauen, hatte ich nicht erwartet. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie so still sein würde und irgendwie so süß. Und es war auch etwas Zerbrechliches an ihr, was ich ebenfalls so nicht erwartet hätte. Ihre Hände waren schmal, mit zarten Handgelenken.
»Was hast du denn erwartet, Emily?«
Sie hatte auf meinen Vater eingestochen. Ich erwartete Härte, scharfe Kanten und Prahlerei.
Als ich nicht antwortete, fuhr Doktor Gilyard fort. »Wann bist du ihr dann das nächste Mal begegnet?«
»Am Montag darauf, als die Kurse anfingen. In Englischer Literatur.«
»Was passierte?«
»Nichts. Ich begrüßte sie einfach nur und setzte mich neben sie.«
»Hat sie sich an dich erinnert?«
Ich lächelte in mich hinein. »Nicht sofort.«
»Wegen deiner Haare?«
Ich nickte. Am liebsten hätte ich danach gefasst, aber dann hätte Doktor Gilyard bemerkt, wie meine Hand zitterte.
»Warum hast du sie dir gefärbt, Emily? Juliet wusste nicht, wie du aussiehst. Du warst noch nicht volljährig, als dein Vater verhaftet wurde, deshalb durften die Zeitungen kein Foto von dir abdrucken.« Anders als jetzt, dachte ich. Jetzt war mein Foto auf der ersten Seite zu sehen gewesen. Emily Koll: Psychopathin in Schuluniform. »Du wolltest doch so wenig wie möglich auffallen«, fuhr Doktor Gilyard fort. »Warum hast du dir dann die Haare rot gefärbt?«
Das war noch eine nette Umschreibung von ihr. Meine Haare waren nicht nur rot, sie waren feuerrot. Ein Rot, das sämtliche Handtücher und Badezimmerkacheln ruiniert.
Juliet stieß einen kleinen Aufschrei aus, als sie mich an dem Morgen sah. Ihr Gesicht leuchtete einen Augenblick auf, und mir schien, dass sie vielleicht nicht immer so still gewesen war. Vielleicht ging es ihr doch schlechter, als ich dachte. Der Gedanke gefiel mir, weil es bedeutete, dass sich bei ihr etwas verändert hatte. Nicht nur ein neuer Name und eine neue Schule und was die vom Zeugenschutzprogramm ihr sonst noch alles für ihr neues Leben besorgt hatten. Es hatte sich in ihr innerlich etwas verändert. Etwas in ihr war zerbrochen und würde nie mehr so sein wie vorher.
Ich klammerte mich an diesen Gedanken. Sie hatte meinen Vater schwer verletzt und meine bisherige Welt in Fetzen gerissen, als handle es sich um einen Brief, den sie lieber nicht lesen wollte. Sie durfte nicht ungeschoren davonkommen.
»Keine Ahnung, warum«, meinte ich achselzuckend zu Doktor Gilyard. »Muss in einem Anfall von geistiger Umnachtung geschehen sein.«
»Hast du dich mit den roten Haaren mehr wie Rose gefühlt?«
Damit konnte sie recht haben. Wahrscheinlich hatte ich so keine Angst mehr, Juliet könnte herausfinden, wer ich in Wirklichkeit war. Weil ich mit den roten Haaren nicht mehr ich war – ich war Rose Glass. Das war für mich der einzige Weg, meinen Plan durchzuziehen; ich musste Emily Koll in Packpapier einwickeln und sie für einige Zeit irgendwo weit hinten in einer Schublade verstauen.
Auf diese Weise wurde es für mich leichter.
»Neue Schule, neues Ich«, verkündete ich Juliet an diesem Vormittag, während ich eine rote Locke um meinen Finger wickelte und sie herausfordernd angrinste.
Es funktionierte, denn ich bemerkte, wie ihr Kinn kaum merklich zitterte, als ich das sagte. Dann wurde es um mich herum auf einmal still. Ich hörte das Schwätzen im Klassenzimmer nicht mehr und nicht die Busse, die draußen vorbeifuhren. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist ein weißes Rauschen. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie das Klassenzimmer aussah. An einer Seite waren lauter Fenster, glaube ich. Die Tische waren alle grau. Vielleicht auch weiß. Das ist alles, woran ich mich erinnere. Es war, als hätte sich meine ganze Welt zu diesem einen Punkt verdichtet, diesem Zittern.
Und in diesem Augenblick kam er ins Klassenzimmer.
»Können wir bitte für heute Schluss machen?«, fragte ich. Mein Herz pochte so stark, dass ich glaubte, es würde mir gleich den Brustkorb zerreißen.
Sie nickte und klappte ihr Notizbuch zu. »Wenn du das möchtest, Emily.«
Bevor sie den Satz beendet hatte, war ich schon zur Tür hinaus.
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L ily hat mir von ihrem Abführmittel gegeben, deshalb konnte ich heute nicht zu meiner Sitzung bei Doktor Gilyard. Mein
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