Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Sitzung heute.
»Erzähl mir von dem Tag, als du sie das erste Mal angesprochen hast, Emily.«
Ich fing an, nervös auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen, und zwang mich, damit aufzuhören. »Es war am dritten September.«
Nur an wenige Daten erinnere ich mich so gut wie an dieses, fast alle anderen sind bei mir ein einziges Durcheinander. Wochen und Monate verklumpen zu unförmigen Gebilden, und manche Tage sind in meiner Erinnerung nur schwarze Löcher. Aber an diesen Tag erinnere ich mich ganz genau, den dritten September, der Tag, an dem ich Juliet Shaw kennengelernt habe.
»In der Woche, bevor die Kurse anfingen, gab es an dem College so was wie eine große Einführungsveranstaltung.« Ich zupfte an dem losen Faden des Stoffbezugs. »Wir hatten uns beide erst spät am College of North London angemeldet, deshalb hatten wir die allgemeine Einschreibung verpasst und holten unsere an diesem Tag nach. Ich bin zu ihr hin, als wir beide darauf gewartet haben, dass wir mit dem Foto für unseren Ausweis drankamen.«
»Hatten die Leute vom Zeugenschutzprogramm dafür gesorgt, dass sie anders aussah?«
Ich nickte. Ich besaß damals nur ein einziges Foto von ihr, das ich wie einen Talisman immer bei mir trug. Darauf hatte sie glatte, lange Haare, die ihr bis über die Schulter reichten. Aber als ich sie in London dann das erste Mal sah, waren ihre Haare gelockt und gingen ihr gerade mal bis zum Kinn. Hoffentlich hatte sie geweint, als sie ihr die schönen langen Haare abschnitten. Klingt herzlos von mir, wenn ich das schreibe, aber so ist es nun mal. Wenn ich mir ausmale, wie sie beim Friseur sitzt und auf dem Boden liegen ganze Büschel von ihren Haaren, dann muss ich grinsen. Diese kleinen Dinge hielten mich damals aufrecht. Als würde alles, was ihr Kummer bereitete, mich ein Stück stärker machen.
»Was ist dir durch den Kopf gegangen, als du sie das erste Mal gesehen hast?«
»Sie war hübscher, als ich gedacht hatte«, sagte ich. »Und ihr Teint dunkler. Sie war richtig braun. Ich wusste, dass sie halb farbig war, aber sie sah einfach so aus, als hätte sie viel in der Sonne gesessen.«
»Warum hat dich das gestört?«
»Das hab ich nicht gesagt«, meinte ich abwehrend.
Doktor Gilyard antwortete nicht, sondern sah mich nur an, und nach ein paar Minuten gab ich auf und sagte: »Na ja, es hat mich ein bisschen geärgert, dass sie so braun gebrannt wirkte.«
»Warum?«
»Weil ich mir gleich vorgestellt habe, wie sie den ganzen Tag bei ihren Pflegeeltern im Garten sitzt und in irgendeiner Zeitschrift blättert, während ich –«
Ich redete nicht weiter.
Doktor Gilyard führte den Satz zu Ende. »Während du mutterseelenallein warst.«
Ich schüttelte abwehrend den Kopf. »Bitte nicht.«
»Was nicht, Emily?«
»Ich will nicht, dass Sie mit mir Mitleid haben.«
»Warum soll ich das nicht – Mitleid mit dir haben, Emily?«
Ich drehte den Kopf weg. »Können Sie bitte damit aufhören?«
»Womit aufhören, Emily?«
»Hören Sie einfach damit auf!« Ich schlug mit den Händen auf die Stuhllehnen. »Dauernd bemühe ich mich, Linien zu ziehen, und das kümmert Sie überhaupt nicht.«
Doktor Gilyard schrieb das auf, und wenn meine Hände nicht so stark gezittert hätten, dann hätte ich ihr den Stift entrissen und entzweigebrochen.
»Okay. Dann gehen wir wieder zurück zu jenem Vormittag am College: Was hast du da zu ihr gesagt?«
»Nichts«, antwortete ich unwirsch. »Ich stand einfach nur hinter ihr in der Schlange und sagte Hallo.«
»Hat sie dir ihren Namen gesagt?«
»Messerstecherin«, sagte ich grinsend, aber Doktor Gilyard ging darüber hinweg.
»Was für einen Namen hat sie dir gesagt?«
»Nancy Wells. Klingt komisch, oder?«
Doktor Gilyard zog eine Augenbraue hoch. »Warum?«
»Nancy. Idiotischer Name. Das ist ein Vorname für alte Damen.«
»Spielt das eine Rolle?«
»Natürlich spielt das eine Rolle«, entgegnete ich. »Warum konnten sie ihr im Zeugenschutzprogramm denn keinen normalen Namen geben? Jo oder Sarah oder irgendwas anderes.«
Doktor Gilyard schrieb auch das auf, und ich seufzte. »Was ist denn jetzt schon wieder?«
»Ich finde es interessant, dass du so auf ihren Namen fixiert bist.«
»Mein Gott, Sie übertreiben aber ganz schön. Ich bin nicht darauf fixiert, ich erwähne es nur.«
Sie blickte mich mit einem Lächeln an. »Ganz wie du meinst.«
Ich wusste, worauf sie hinauswollte, aber ich weigerte mich, freiwillig anzubeißen.
Deshalb fragte sie weiter.
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