Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
»Und welchen Namen hast du ihr genannt, Emily?«
»Dass ich Rose Glass heiße.«
»Warum Rose Glass?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Um das alles hatte Onkel Alex sich gekümmert.«
»Was denn alles?«
»Alles. Name, Wohnung, alles.«
»Was genau?«
Entnervt warf ich den Kopf zurück. »Sie sind ja schlimmer als die Polizei.«
»Also, was alles?«
»Pass, Geburtsurkunde, Zeugnis, Empfehlungsschreiben.«
»Ziemlich methodisch.«
»Onkel Alex war früher Pfadfinder.«
»Du hast dich darin ein Jahr jünger gemacht, richtig? Damit du sechzehn warst, wie Juliet damals auch.«
»Ja.«
»Wie war das für dich, das Schuljahr noch mal von vorn anzufangen? Du warst doch schon zur Hälfte mit deinen Abschlussprüfungen fertig, als dein Vater festgenommen wurde und ihr nach Spanien geflohen seid, richtig? War es seltsam für dich, wieder in die Schule zu gehen?«
»Mhmmm.«
Weil sie merkte, dass sie da nichts aus mir herausbekommen würde, stellte sie einfach eine andere Frage. »Wie hat Juliet damals denn auf dich gewirkt?«
Ich wandte den Blick ab. »Furchtlos.« Mehr als ein Flüstern brachte ich nicht heraus. »Es war ihr erster öffentlicher Auftritt als Nancy Wells. Da hätte sie eigentlich viel nervöser sein müssen.«
»Warst du denn nervös, Emily?«
Ich musste lächeln. »Ein bisschen.«
Als ich danach zu Doktor Gilyard hinsah, hätte ich schwören können, dass auch sie sich ein Lächeln kaum verkneifen konnte. Wenn man bedenkt, was ich hier alles für Lügenmärchen auftische, war das fast schon ironisch. »Glaubst du, sie hat sich nur nach außen hin nichts anmerken lassen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das war nicht nur äußerlich.«
Jede andere hätte vor Aufregung und Angst gezittert. Nicht so Juliet. Sie ging aufrecht ihren Weg. Das hab ich an ihr stets bewundert und gehasst – wie sie nach allem, was sie getan hatte, der Welt immer noch so furchtlos ins Auge blicken konnte.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Doktor Gilyard und blickte von ihrem Notizbuch hoch.
»Nichts. Ich hab Hallo gesagt, und sie hat auch Hallo gesagt.«
Ich erinnere mich daran, wie mir das Herz bis zum Hals klopfte, als ich mich neben sie setzte. Jeder Herzschlag war wie ein Fausthieb. Ich war mir sicher, ich würde am nächsten Tag einen herzförmigen, großen blauen Fleck haben. Aber Juliet zögerte keine Sekunde, als sie mir ihren Namen sagte. Auch das würde ich an ihr lieben und hassen lernen: Sie konnte so wunderbar lügen.
Was glaubst du, von wem ich das gelernt habe?
[zurück]
E ines der Mädchen, die vor mir in meinem Zimmer untergebracht waren, hatte dort in die Wand neben dem Bett LET IT BE gekratzt. Manchmal liege ich da und starre die Buchstaben einfach nur an. Und nachts, wenn ich nicht schlafen kann, taste ich manchmal mit den Fingern danach und fahre wieder und wieder darüber, bis der Schlaf mich schließlich überwältigt.
Gestern Nacht bin ich so eingeschlafen, und heute, in Doktor Gilyards Büro, habe ich es mit den Fingern in meine Handfläche geschrieben. Immer und immer wieder.
LET IT BE . LET IT BE . LET IT BE .
»Bist du bereit, darüber zu reden, wie –«, begann sie schließlich.
Ich wandte mich ab, bevor sie den Satz beendet hatte.
»Ich weiß, dass wir uns jetzt dem Zeitpunkt nähern, an dem er –«
Da platzte es laut aus mir heraus. »Nein«, sagte ich.
Sie nickte und schlug ihr Notizbuch auf. »Letzte Woche haben wir über den Tag gesprochen, an dem ihr beide euch kennengelernt habt, Juliet und du. Ich würde gern noch einmal darauf zurückkommen, dass du gesagt hast, du hättest sie dir anders vorgestellt.«
Ich stöhnte. »Können wir nicht wieder über meinen Kater reden?«
»Inwiefern war sie anders, als du sie dir vorgestellt hattest?«
»Keine Ahnung. Eben einfach anders.«
»Emily!«
Ich stöhnte erneut. »Sie war so still.«
»Still?«
»Ja, still. Sie redete nicht viel.«
Als ich wieder aufsah, schrieb Doktor Gilyard etwas in ihr Notizbuch, und ich verdrehte die Augen. »Was notieren Sie denn jetzt schon wieder?«
»Ich finde es bemerkenswert, Emily, dass du nach allem, was sie durchgemacht hatte, von ihr erwartet hattest, aufgeschlossener für ihre Umgebung zu sein.« Sie blickte von ihrem Notizbuch hoch. »Sie befand sich im Zeugenschutzprogramm, und du warst eine Fremde. Ich finde, ihr Verhalten dir gegenüber war völlig angemessen. Aber du scheinst enttäuscht gewesen zu sein.«
»Ich war nicht enttäuscht«,
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