Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
zumute.
»Schon«, sagte ich.
»Wie geht’s bei dir zu Hause so?«
»Gut«, meinte ich gleichgültig.
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Gut.«
»Deine Eltern haben sich vor Kurzem scheiden lassen, richtig? Du lebst bei deiner Mutter. Wie ist das denn so für dich?« Sie hielt abwehrend die Hand hoch. »Und jetzt antworte nicht ›Gut‹!«
»Ganz okay.«
»Ganz okay? Na, das sind ja schon zwei Wörter! Das wird noch ein richtiges Gespräch zwischen uns.« Sie beugte sich vor. »Und was ist mit deinem Vater? Siehst du ihn noch oft?«
Ich wusste, dass sie mich nach meinem Vater fragen würde. Aber ich wurde da immer noch ganz verlegen, deshalb senkte ich den Kopf. Sonst hätte sie bei meinem roten Kopf bestimmt sofort gemerkt, dass ich log.
»Nein. Er ist Chirurg, und da hat er sehr unregelmäßige Arbeitszeiten.«
»Und deine Mutter?«
»Sie ist Pharmareferentin, deshalb ist sie viel unterwegs.«
»Das ist für dich bestimmt nicht leicht.«
»Mhmmm.« Ich starrte auf meine schwarz lackierten Fingernägel. Es war so still, dass ich hören konnte, wie im Flur ein Tutor einen Schüler ermahnte, weil er im Unterricht sein Handy nicht ausgeschaltet hatte.
»Wie geht es deiner Mutter? Das muss für sie immer noch eine ziemlich schwere Zeit sein.«
»Gut.«
»Okay«, sagte sie mit einem langen Seufzer und presste die Finger gegen ihre geschlossenen Augenlider. Wäre sie keine Lehrerin gewesen, dann hätte sie mich in diesem Augenblick vermutlich am Kragen gepackt und geschüttelt. Manchmal würde ich sie und Doktor Gilyard am liebsten einander vorstellen, aber sobald sich beide in einem Raum befänden, würde bestimmt eine von ihnen in Flammen aufgehen.
»Okay, Rose«, sagte sie noch einmal und hielt die Hände hoch. »Okay. Ich weiß, dass es bei dir im Moment drunter und drüber geht und dass ich die letzte Person bin, mit der du darüber reden möchtest. Ich verstehe das. Als ich siebzehn war, gab es ungefähr siebenundvierzig Leute, mit denen ich eher über meine Probleme geredet hätte als ausgerechnet mit einer Lehrerin. Da hätte ich noch eher bei dem Typen mein Herz ausgegossen, der immer mit seinem Megafon vor der U-Bahn-Station Oxford Circus stand und alle Passanten fragte, ob sie sich der Sünde oder Gott verschrieben hätten.« Sie lächelte nachsichtig. »Alles, was ich dir sagen will, ist, dass ich selbst gerade eine Scheidung hinter mir habe. Und ich weiß, wie schrecklich so etwas ist. Ich bin nur froh, dass ich keine Kinder habe, die jetzt mitbekommen würden, wie ihre Mutter dauernd heult und nachts am Kühlschrank steht und Käsekuchen in sich reinstopft, direkt aus dem Tiefkühlfach.«
»So ist es bei uns nicht.« Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Keine Ahnung, warum ich mich von ihr so in die Enge getrieben fühlte, und wahrscheinlich hätte sie mich auch sofort in Ruhe gelassen, wenn ich ihr zugestimmt oder ihr vorgejammert hätte, wie schlecht es mir ging. Bei Mike und Eve hatte das ja auch funktioniert. Aber ich starrte sie nur über den Tisch hinweg an. »Meiner Mutter geht es gut. Nicht alle Frauen reagieren hysterisch und futtern sich ihre Pfunde eins zu eins mit Ben & Jerry’s drauf, weil ihre Ehemänner sie verlassen haben.«
Kaum hatte ich das gesagt, blickte ich verlegen weg. Ich war wütend auf mich selbst. Keine Ahnung, warum, aber sie hatte es geschafft, mich aus der Reserve zu locken. Musste an ihren hohen Absätzen liegen, sie traf damit zielsicher meinen wunden Punkt.
Ich hatte erwartet, dass sie zurückschießen würde, doch ihre Augen leuchteten auf. »Oh. Hallo, Rose. Jetzt hab ich dich endlich zum Leben erweckt.«
Sie lächelte mich an, aber ich schaffte es nicht, sie anzusehen, und starrte stattdessen auf den
Spice Girls
-Wecker oben auf ihrem Aktenschrank.
»Wo versteckst du dich die ganze Zeit, Rose? Dieses Mädchen –«, ich konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie sie mit meiner Akte wedelte, »– dieses Mädchen, das im Unterricht vor sich hin döst und im Kunstkurs gelangweilt an einem schauderhaften Stillleben pinselt, ist nicht die Rose, von der mir hier berichtet wird und von der ich auch gehört habe. Das Mädchen, das seine Haare feuerrot gefärbt hat und zwischen den Stunden Andrea Dworkin liest. Was ist los mit dir, Rose?«
Als ich nicht antwortete, redete sie weiter. »Dein Englischlehrer hat mir erzählt, dass du die meiste Zeit aus dem Fenster schaust, aber als er etwas auch nur im Entferntesten Negatives
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