Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
hätte nicht anbeißen sollen, aber ich tat es. »Was denn?«
»Du magst Sid. Schwierig.«
Ich kicherte verlegen. »Ja, ähm … könnte sein.«
Sie war die Erste, die es so offen aussprach. Davor hatte ich nicht weiter darüber nachgedacht, aber als sie es jetzt sagte, schoss mir das Blut in den Kopf.
»Schwierig. Schwierig. Schwierig«, sagte sie bei jedem Schritt.
Ich senkte lieber den Blick, falls meine Wangen jetzt wirklich so rot geworden sein sollten, wie sie sich anfühlten. Sie trug Plateauschuhe mit hohen Absätzen. Plateauschuhe aus grünem Wildleder. Ich erinnere mich daran, wie ich ihre Schuhe anstarrte. Die Lehrerinnen in St. Jude’s hatten keine grünen Wildlederplateauschuhe mit hohen Absätzen getragen.
»Hier sind wir! Komm rein«, sagte sie, als wir bei ihrem Büro angelangt waren. Sie machte eine Handbewegung, als würde sie mich einer alten Freundin vorstellen. »Willkommen in Graceland! Haha, guter Witz, oder? Ich bin Grace, und das ist mein Reich.«
»Ich merk schon, Sie lieben Sprachspiele«, meinte ich mit leicht hochgezogener Augenbraue.
Als ich das Büro betrat, blieb ich erst einmal stehen.
»Ich weiß.« Sie ging zum Besucherstuhl an ihrem Schreibtisch und nahm einen Stapel Zeitungen fort, damit ich mich hinsetzen konnte. »So in etwa sieht es auch in meinem Kopf aus.«
Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Die Büros der Lehrer in St. Jude’s hatten bunte gotische Spitzfenster und Ölgemälde mit stumpfsinnig lächelnden ehemaligen Schülern an den holzverkleideten Wänden. Die Wände in Graces Büro dagegen waren mit Anti-Raucher- und Safer-Sex-Kampagnen-Plakaten tapeziert, und das Licht des einzigen Fensters im Raum musste sich seinen Weg durch die halb vertrockneten Blätter einer Grünlilie suchen, die über die Kante des Fensterbretts herabhingen, als wollten sie sich gleich mit letzter Energie in den darunterstehenden Papierkorb fallen lassen.
Nachdem ich auf dem Besucherstuhl Platz genommen hatte, musste sie auf ihrem Schreibtisch erst einmal einen hohen Papierstapel beiseiteschieben, um mich überhaupt sehen zu können. »Guckguck!«, rief sie von ihrem Stuhl gegenüber und grinste. Dann seufzte sie auf, es entfuhr ihr ein »Oh!«, und sie kritzelte etwas Unlesbares auf ein herzförmiges rosa Post-it.
Ich schielte zu dem Zettel hinüber, den sie auf eine freie Stelle der Tischplatte geklebt hatte, und glaubte »Milch« zu entziffern. Doch dann gab ich auf. Außerdem faszinierte mich der Kaffeebecher neben ihrem Handy viel mehr.
»Ein naturwissenschaftliches Experiment?«, fragte ich und verzog das Gesicht.
»Keine Sorge, das ist Penny«, sagte sie.
Ich blinzelte sie an. »Sie haben Ihrem Becher einen Namen gegeben?«
»Penny, wie Penicillin, kapiert? Sie wird eines Tages noch die Welt retten. So ist es doch, Penny, oder?« Grace tippte mit ihrem Stift dagegen. »Klar, tust du das.«
Wenn ich in Doktor Gilyards winzigem weißen Büro sitze, muss ich manchmal an diesen Augenblick denken, an Grace und ihre herzförmigen rosa Post-its.
»Okay, Rose. Rose Glass«, sagte sie und zog eine Mappe aus einem der wackeligen, hohen Stapel auf ihrem Schreibtisch heraus. Der Stapel wankte gefährlich, aber er fiel nicht um. »Wie geht es dir? Du kannst mir alles sagen.«
»Gut«, meinte ich achselzuckend.
»Wie gefällt es dir bei uns am College of North London?«
»Gut.«
»Und deine Kurse?«
»Gut.«
»Du bereitest dich auf die A-Levels vor, richtig?« Sie überflog meine Akte. »Englische Literatur, Soziologie, Geschichte und Kunst und Design. Ziemlich viel Lesestoff. Schaffst du das Pensum denn?«
»Ja, glaub schon.«
»Und Freunde hast du ja auch schon. Sid ist in meinem Theaterkurs. Er ist umwerfend, hab ich recht? Ein unglaublich hübscher Junge!« Sie zwinkerte mir theatralisch zu.
Jetzt fiel mir auch das eingerahmte
Frühlings Erwachen
-Poster an der Wand hinter ihrem Schreibtisch auf, und plötzlich wäre ich auch gern bei ihr im Theaterkurs gewesen. Als Olivia in St. Jude’s vorgeschlagen hatte,
Frühlings Erwachen
aufzuführen, bekam Mr Carmichael beinahe einen Herzinfarkt.
»Und Nancy scheint auch sehr nett zu sein, nach allem, was ich so mitbekommen habe«, fügte sie hinzu. Da wusste ich wieder, warum mir der Theaterkurs vollkommen gleichgültig war. Wozu ich eigentlich hier war.
»Sie hat viel durchgemacht«, sagte Grace, und ich blickte wieder zu dem Plakat.
»Du auch«, fügte sie mit leiserer Stimme hinzu. Mir wurde davon ganz seltsam
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