Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
auch nicht so, dass ich davor – vor der Sache mit Juliet – unglücklich gewesen wäre. Ich war an der Schule sogar ziemlich beliebt. Okay, ich war keines dieser perfekt gestylten Mädchen, die zuerst auf deine Taschenmarke guckten, bevor sie dich ansahen, und ich gehörte auch nicht zu den Supercoolen, die schwarzen Kaffee tranken und Murakami lasen. Aber ich hatte meine Nische gefunden – ich spielte Cello. Vielleicht nicht so aufregend wie Gitarre, und statt schwarz lackierter Fingernägel trug ich nur ein schwarzes Kleid, aber ich war gut. So gut, dass meinem Vater und Onkel Alex bei meinen Auftritten die Tränen kamen. Und ich hatte Freundinnen. Catherine Bamford und ich tauschten regelmäßig Klamotten aus, und jedes Mal, wenn ich mit Alma Peet zu einer Party ging und Max Dalton sie dort mit Wodka abfüllte, bis sie kotzen musste, hielt ich ihr die Haare zurück. Und als Olivias Großmutter starb, ließ ich eine Karte rumgehen, auf der alle unterschrieben, und wir spendeten gemeinsam für die Krebshilfe.
Doch das war alles davor. Deshalb vergiss Emily. Seit dem Moment, in dem Juliet auf ihren Vater eingestochen hatte, gab es sie nicht mehr. Jetzt bin ich nur noch Harry Kolls Tochter. Das ist alles, was ich bis an mein Lebensende sein werde, und deshalb verstehst du nun vielleicht, warum ich eine Zeit lang lieber Rose Glass war.
Ich weiß, das klingt jetzt bestimmt krank, aber ich habe von Rose sehr viel gelernt. Vorher musste ich die Person sein, die ich einfach war, und hab nicht viel darüber nachgedacht. Ich war einfach ich, wenn du weißt, was ich meine. Ich hab nicht groß überlegt, ob ich vielleicht auch jemand anders sein könnte. Mich radikal verwandeln. Ich dachte, meine Persönlichkeit sei so unveränderlich wie meine Haarfarbe. Aber dann färbte ich meine Haare feuerrot, und ich sah nicht mehr aus wie ich. Ich sah auf einmal aus wie Monday Fitzgerald.
Monday war in der elften Klasse, als ich nach St. Jude’s kam. Sie war keines der perfekt gestylten Mädchen und las auch nicht Murakami, aber jedes Mädchen aus meiner Klasse blickte ehrfürchtig zu ihr auf. Wir waren alle klein und hatten viel zu lange Haare und nicht genug Persönlichkeit. Monday war groß und anmutig, hatte riesengroße, kardamomfarbene Augen und ein Lächeln, das ein Pferd mitten im Galopp abgebremst hätte.
Jedes Mädchen in St. Jude’s wollte wie Monday Fitzgerald sein. Nicht weil sie besonders beliebt oder hübsch oder zu Großem auserkoren gewesen wäre, sondern weil in einer Schule, in der alle gleich aussahen und gleich gekleidet waren und mit derselben Handvoll Jungs ausgingen, Monday Fitzgerald in ihrem Schottenminirock und ihren Doc Martens unleugbar und unangreifbar als sie selbst durch die Korridore ging. Und wir liebten sie dafür.
Hätten wir auch nur die geringste Ahnung gehabt, wer wir selbst eigentlich waren, dann hätten wir das Gleiche getan.
Schon seltsam, dass ich erst eine andere werden musste, um zu begreifen, wer ich bin. Wer ich sein könnte. Ich dachte vorher immer, die Welt sei einfach zweigeteilt in Leute wie Monday und Leute wie mich. Mir wäre nicht im Traum eingefallen, dass ich auch jemand sein könnte, der mit einem Hüftschwung ein Zimmer betritt und alle anlächelt. Ich weiß nicht, warum. Ich hätte es ja nur einmal probieren müssen, und dann hätte ich gemerkt, dass ich es auch kann. Aber wahrscheinlich braucht man etwas nur oft genug vorgesagt zu bekommen, um es dann schließlich auch zu glauben. Und mein ganzes Leben lang hatte ich immer nur gehört: Emily ist so schüchtern, Emily ist so still, Emily ist so klug. Wenn ich es mir jetzt überlege, weiß ich nicht, ob ich irgendwas davon jemals wirklich war, oder ob ich nur schüchtern und still und klug geworden bin, weil alle das von mir behauptet haben.
Aber dann war ich plötzlich Rose, und ich musste nicht mehr so sein. Ich konnte Emily ablegen wie einen Wintermantel, und plötzlich schien die Sonne, sodass ich ihn auch gar nicht mehr brauchte. Ich fühlte mich auf einmal frei. Ich konnte sagen, was ich wollte. Ich konnte anziehen, was ich wollte. Ich hörte Bands, weil ihre Musik mich berührte, nicht weil jemand mir erklärte, sie seien total cool. In den Klamottenläden steuerte ich auf Kleiderstangen zu, die ich bisher nur aus der Ferne gemustert hatte, und probierte Sachen an, von denen ich bisher immer gedacht hatte, sie würden mir nicht stehen. Vielleicht standen sie mir immer noch nicht, aber es war mir egal, und
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