Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Mensch, der ich jetzt nie mehr sein werde.
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W as ich Doktor Gilyard nie erzählt habe, war, dass ich sofort zu Juliet rannte, sobald Onkel Alex sich an jenem Abend verabschiedet hatte. Mein Entschluss stand fester denn je.
Ich war ziemlich außer Atem, als ich zu dem Haus gelangte, in dem sie mit ihren Pflegeeltern wohnte. Die Luft stach mir kalt in den Lungen, als ich durch das Gartentor und aufs Haus zuging.
»Hallo, Ro«, sagte Mike, als er mich sah. »Wo warst du? Wir haben jetzt schon gegessen.«
»’tschuldigung«, sagte ich und holte erst mal Luft. »Mein Onkel kam plötzlich zu Besuch vorbei.«
Erst als ich stehen blieb, merkte ich, wie kalt es bereits war. Der September war wie ein Fieber gekommen und gegangen. Die Blätter verfärbten sich, und die Nacht brach früher und früher herein. Vom September erinnere ich mich an beinahe nichts mehr, außer dass er auf einmal vorbei war und ich an jenem Abend im Oktober merkte: Aus mir war immer stärker Rose geworden, Emily gab es immer weniger.
»Alles in Ordnung bei dir?« Mike hatte rauchend neben der Hintertür gestanden, und als er sich mir jetzt zuwandte, leuchteten seine Augen im Licht, das aus der Küche kam, unnatürlich blau.
»Ja, klar. Meine Mutter wollte nur, dass wir alle zusammen essen. Tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe.«
Inzwischen gingen mir die Lügen leicht von den Lippen. Ich fing sogar an, meinen Spaß daran zu haben, wieder sechzehn zu sein. Rose Glass fühlte sich für mich manchmal wirklicher und authentischer an als Emily Koll. Als Person freier und unabhängiger. Was bestimmt auch damit zu tun hatte, dass ich als Rose auf alles eine Antwort wissen musste. Als ich Emily war, fühlte ich mich nie für irgendetwas wirklich bereit; ich war bei allem immer ein paar Schritte zurück. Ich war nicht so hübsch wie die anderen Mädchen in St. Jude’s, nicht so reich, nicht so dünn, nicht so klug. Sie hatten alle einen Freund und spielten im Hockeyteam und veröffentlichten bereits Kurzgeschichten – und das alles, während sie immer nur die besten Noten schrieben –, wohingegen ich mich mühsam durch die Bücher auf meiner Lektüreliste kämpfte. Aber Rose musste keine Prüfungen machen. Sie brauchte auch keinen Freund oder einen Studienplatz an einer Universität. Es war eigenartig befreiend, nicht jemand sein zu müssen.
Das Seltsame daran ist, dass ich glaube, gerade deswegen hätte aus mir jemand werden können.
»Du bist heute so still.« Mike runzelte die Stirn. Offensichtlich machte er sich Sorgen, weil ich mir von ihm keine Zigarette zu schnorren versuchte oder fragte, ob sie für mich vielleicht noch was zu essen übrig hätten.
»Ja. ’tschuldige.« Ich schüttelte den Kopf und lächelte dann.
Die Hintertür stand offen, und ich lehnte einen Augenblick am Türrahmen und blickte in die Küche. Sie war leer. Das Geschirr abgespült. Die Teller tropften noch auf dem Trockengestell ab.
»Was hab ich denn verpasst?«
»Spaghetti bolognese. Eve hat dir was aufgehoben«, sagte er, und ich musste lächeln.
Die Küche roch noch nach Zwiebeln und Knoblauch. In ihr roch es immer nach irgendetwas. Am Morgen nach verbranntem Toast und am Sonntag, wenn Eves Mutter zu Besuch war und nach der Kirche Gizzadas buk, roch es nach Ingwer und Kokosnuss. So etwas kannte ich bisher nicht. Mein Vater kochte nicht, und als ich im Internat war, wurde für mich gekocht. Nach Hause zu kommen und der Geruch von Zwiebeln und Knoblauch stieg einem in die Nase, das war neu für mich. Vielleicht fand ich es irgendwie tröstlich und kam deshalb so oft her. Keine Ahnung. Aber als Juliet mich eines Abends einlud, zu »ihrer Tante und ihrem Onkel« zum Essen mitzukommen, spürte ich sofort, dass etwas mit mir geschah. Etwas Gutes und Wichtiges. Dass ich so etwas wie eine Heimat gefunden hatte.
Es war, ein paar Wochen nachdem das College angefangen hatte. Ich war darauf gefasst gewesen, faserige Schweinskoteletts und Dosenerbsen bei einem leicht übergewichtigen älteren Ehepaar über mich ergehen lassen zu müssen. Doch als ich in die Küche kam, standen dort gut gelaunt und Rotwein trinkend Mike und Eve und sangen Amy-Winehouse-Songs aus dem Radio mit, während sie Zwiebeln schnitten.
Sie schienen sich aufrichtig zu freuen, mich kennenzulernen, und noch bevor ich überhaupt meine Jacke ausgezogen hatte, ließ mich Eve neben ihr Paprika schneiden und Mike hielt mir Gewürze unter die Nase.
»Riech mal«, sagte er.
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