Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von ganzem Herzen Emily (German Edition)

Von ganzem Herzen Emily (German Edition)

Titel: Von ganzem Herzen Emily (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanya Byrne
Vom Netzwerk:
glauben immer, ich sei verwöhnt«, erwiderte ich, den Blick auf den Riss in der Wand hinter Doktor Gilyard gerichtet. »Aber Juliet war das verwöhnte Gör. Sie hatte alles und war immer noch unglücklich.«
    »Woran hast du das denn gemerkt?«
    »Zum Beispiel an dem Abend, als ich Mike von ihr und Sid erzählt hatte, da zerrte sie mich in ihr Zimmer und knallte die Tür zu, als wäre sie zwölf Jahre alt.« Sie ist nur ein Jahr jünger als ich, aber manchmal fühlte es sich wie zehn Jahre an.
    »Was hat sie gesagt?«
    »Nichts. Sie hat sich nur auf ihr Bett geworfen.«
    »Und du? Was hast du getan?«
    »Nichts.«
    Ich beschäftigte mich eine Zeit lang mit dem Krimskrams auf ihrer Kommode, dann gab ich ihr einen Klaps und sagte ihr, sie solle sich jetzt mal nicht so haben. Ich schraubte eine Tube mit Haargel auf und roch daran, und dann nahm ich ein rosa-weißes Döschen mit Lippenbalsam und tupfte etwas davon auf meine Unterlippe.
    Das machte ich damals oft. Es war, als müsste ich alles berühren, was ihr gehörte, es in der Hand halten, daran riechen und es hin und her wenden. Ein paar Kassenbons und Münzen lagen neben ihrem Schmuckkästchen, außerdem die Kinokarte von einem Film, den ich auch gern gesehen hätte. Sie hatte ihn sich zusammen mit Sid angeschaut, und mir wurde bei dem Gedanken so weh ums Herz, dass ich mir mit der Hand an den Brustkorb fuhr.
    »Als sie dorthin kam, zu Mike und Eve, besaß sie nichts, nur einen Koffer mit Sachen, die ihr die Leute vom Zeugenschutzprogramm besorgt hatten«, sagte ich. Doktor Gilyard hörte zu schreiben auf, und in ihrem Büro war es plötzlich still. »Sonst besaß sie nichts – sie hatte alles zurücklassen müssen.«
    »Aber hast du nicht gesagt, sie hätte alles gehabt?«
    »Sie hatte alles verloren«, erwiderte ich unwirsch, plötzlich wie außer Atem. »Ihren Vater, ihre Freundinnen, alles. Aber jetzt hatte sie schließlich Mike und Eve. Und ein Zimmer voller Sachen, die ihr gehörten. Ich dagegen musste alles infrage stellen, was in meinem bisherigen Leben von Bedeutung gewesen war. Alles. Jede einzelne Erinnerung an meinen Vater. Jedes Geschenk, das ich von ihm erhalten hatte. Ich grübelte sogar nach, warum er mir die verdammte Katze geschenkt hatte!«
    Ich zitterte, während ich das sagte. Genauso wie an jenem Abend in Juliets Zimmer, als ich am liebsten die Fotos von ihr mit Mike und Eve von der Pinnwand gerissen und ihre Parfümflaschen umgeschmissen hätte. Stattdessen schloss ich fest die Augen und holte ein Mal tief Luft.
    Als ich sie wieder öffnete, fiel mein Blick auf den Spiegel über ihrer Kommode.
    »Wer hat das denn gemacht?«, fragte ich und nickte in Richtung auf das Foto von Maya Angelou, das an den Rahmen des Spiegels geklebt war. Jemand hatte mit Lippenstift PHENOMENAL WOMAN, THAT’S ME darübergeschrieben.
    »Na, rate mal!«, sagte sie mit einem Lächeln, und ich lachte.
    »Ich muss Eve unbedingt mal meine Mutter vorstellen. Sie hat auf die Tür von unserem Kühlschrank ein Foto von Audrey Hepburn geklebt und darübergeschrieben: WAS WÜRDE AUDREY ESSEN ?«
    Hatte sie natürlich nicht – woher sollte ich eine Ahnung haben, was meine Mutter auf ihre Kühlschranktür klebt –, aber Olivias Mutter hatte das Audrey-Hepburn-Foto auf ihrem Kühlschrank, deshalb war es keine komplette Lüge. Hauptsache, die Mutter von irgendjemandem hatte ein Bild von Audrey Hepburn auf die Kühlschranktür geklebt und das mit dem Essen darübergeschrieben. Das machte ich damals auch häufig: die Erinnerungen von anderen stehlen und sie als meine eigenen ausgeben. Manchmal bringe ich sie immer noch durcheinander. Ich denke an etwas – zum Beispiel das Foto von Audrey Hepburn auf dem Kühlschrank – und lächle. Dann erst fällt mir ein, dass es gar keine Kindheitserinnerung von mir ist, über die ich lächeln könnte.
    Ich blickte auf das Foto von Maya Angelou und fragte mich, wie es sich wohl angefühlt hätte, eine Mutter wie Eve zu haben. Olivias Mutter hatte mir Dinge beigebracht, wie mir einen Zopf zu flechten, und war mit mir meinen ersten BH kaufen gegangen – und manchmal wüsste ich gern, ob alles anders verlaufen wäre, ob ich eine andere wäre, wenn ich eine eigene Mutter gehabt hätte, die all so was mit mir getan hätte. Ob ich mir wohl Perlenketten um den Hals gehängt und in zu großen hochhackigen Schuhen herumstolziert wäre, als ich noch klein war, wie das andere Mädchen getan hatten.
    »Wie kommt es, dass du nur Fotos von dir mit

Weitere Kostenlose Bücher