Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
glaubte ich eine Sekunde lang – nur eine Sekunde –, wenn ich ihm jetzt alles auf die richtige Weise erzählte, würde er mich verstehen.
»Er hat dann angefangen, für Firmen zu arbeiten«, sagte ich, während ich mir die dritte Dose Bier aufmachte, »die Wartung für Firmenautos, für Taxiunternehmen, solche Sachen. Die Aufträge wurden immer größer, und als er schließlich einen festen Vertrag mit der Polizei hatte, sind wir aus Scarbrook weggezogen.«
Sid wirkte beeindruckt, aber jetzt musste ich wirklich aufhören. Ich wusste ja selbst nicht so richtig, was damals eigentlich vor sich ging. Ich hatte natürlich die Artikel in den Zeitungen gelesen; ich wusste, dass mein Vater nicht nur Autos reparierte. Aber ich hatte keine Ahnung, was das für eine Geschichte mit meiner Mutter war. Warum sie nicht mit uns kam. Als ich alt genug war, um meinen Vater danach zu fragen, erzählte er mir, sie sei noch zu jung gewesen, sie sei einfach nicht damit zurechtgekommen, in dem Alter schon ein Kind zu haben. Ich habe keine Ahnung, wie es kam, dass sie so plötzlich aus unserem Leben verschwunden ist. Was mein Vater damit zu schaffen hatte. Vielleicht hatte er mit ihrem Verschwinden wirklich nichts zu tun. Vielleicht stimmte es ja, und sie war als Mutter einfach überfordert gewesen. Wäre es nicht komisch, wenn sie auch an irgendeinem Ort sitzen und in ein Heft alles aufschreiben würde, was sie getan und erlebt hatte?
»Dann hat dein Vater das alles für dich getan?«, fragte Sid.
Ich schreckte auf und merkte, dass ich die Bierdose eingedellt hatte. »Was getan?«
»Na, alles. Sein Geschäft aufzubauen, aus Scarbrook wegzuziehen, ein Haus in Barnsbury zu kaufen. Er hat das alles getan, weil er wollte, dass du es besser hast.«
Er lächelte dabei, als wäre das doch etwas Gutes, aber mir war dabei zum Kotzen zumute. Ich hatte immer das Gefühl, daran schuld gewesen zu sein, dass meine Eltern sich getrennt hatten. Mal angenommen, meine Mutter wäre fünf Jahre später mit mir schwanger geworden, wäre dann vielleicht alles anders gekommen? Hätte sie besser damit umgehen können, ein kleines Kind zu haben? Und der Rest? Hat mein Vater das wirklich alles für mich getan? Klar hat er mir das immer wieder gesagt. Aber es war auch alles, was er zu mir gesagt hat. Ich will, dass du alles hast, was du dir wünschst, meine Kleine. Alles. Du kannst alles haben. Du brauchst es mir nur zu sagen. Aber er meinte damit: sich einfach etwas nehmen. So war es doch. Er nahm sich einfach alles.
Was hat er alles getan, um zu seinem vielen Geld zu kommen?
»Alles in Ordnung?«, fragte Sid und riss mich aus meinen Gedanken. Ich lächelte ihn an.
»Ja, nur ein bisschen betrunken.«
Er schaute mich irgendwie komisch an und fragte noch einmal nach. Als ich ihm daraufhin noch einmal dieselbe Antwort gab, reagierte er verärgert.
»Das machst du immer so, Ro«, sagte er frustriert.
»Was?«
»Reden. Reden, reden, reden, reden. Über alles. Über Bücher, die du gerade liest, und Filme, die du gern ansehen möchtest, und über den durchgeknallten Typen, der dauernd vor der Polizeiwache steht und einen Müllsack als Mantel umgehängt hat. Aber du sagst nie etwas. Es ist immer so, als gäbe es da eine Linie.« Er zog mit dem Finger in der Luft eine Linie zwischen uns. »Du gehst nur so weit und nicht weiter.«
»Stimmt gar nicht.«
»Doch, ist so. Wie jetzt eben. Irgendetwas, was ich über deinen Vater gesagt habe, hat dich vollkommen aus der Fassung gebracht. Nur wenn ich dich dann frage, ob alles in Ordnung ist, weichst du mir aus.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Bei Nance ist es genauso. Man kommt bei ihr bis zu einem bestimmten Punkt, aber nicht weiter. Sie lässt mich nicht wirklich an sich heran.«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Mir fielen dafür nicht schnell genug die richtigen Worte ein. Ich fischte herum, doch ich bekam nichts zu fassen. Als hätte ich fettige Finger, an denen alles abglitt. Deshalb flüchtete ich mich in einen schnoddrigen Tonfall. »Meine Eltern haben sich gerade erst scheiden lassen. Deshalb fällt es mir schwer, darüber zu reden, okay?«
»Schon gut, Ro.« Er wirkte resigniert. »Da steckt mehr dahinter. Das spür ich ganz genau. Aber wenn du nicht darüber reden willst …«
»Da steckt nicht mehr dahinter!«
»Doch, und du musst es mir auch nicht sagen, aber ich weiß, dass es so ist. Wenn mich nämlich jemand nach meiner Mutter fragt, reagiere ich
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