Von Natur aus kreativ
den Hauptgefühlen gehört, sind unangenehm; sie sind ein Anzeichen dafür, dass etwas an einer Situation verändert werden muss. Die sogenannten negativen Gefühle sind also notwendig für die eigene Existenz. Freude hingegen und auch kurzzeitige Momente des Glücks sind angenehme Gefühle. Damit bringen sie Anreize, die Situationen, in denen sie sich einstellen, häufiger herbeizuführen. Auch Liebesgefühle machen kreativ. Denken Sie nur daran, welche Anstrengungen und Mühen Liebende auf sich nehmen, nur um Gelegenheiten zu schaffen, in die Nähe des anderen zu kommen und dessen Aufmerksamkeit zu erregen.
Gefühle geben einen Rahmen vor, damit einem etwas bewusst wird und auf das Vorherige bezogen werden kann. Denn Gefühle haben länger Bestand als die Momentaufnahmen der Wahrnehmung. Gefühle sind chemische Leistungen des Gehirns, und die Körperchemie baut sich nicht so schnell ab. Es dauert nicht lange, etwas sehr Unerfreuliches gesagt zu bekommen, doch man muss sehr lange daran arbeiten, dass die erzeugten Wogen des Ärgers oder der Enttäuschung wieder abflauen. Das gilt umgekehrt genauso: In nur einer Sekunde hat die geliebte Person die drei magischen Worte ausgesprochen, aber Sie können sich Monate danach noch darüber freuen.
Genauso ging es Steinhauer. Seine Eifersucht hielt bedeutend länger an als die beobachtete Annäherung von Nikolitsch an seine Ehefrau. Seine Angst vor Erpressung oder einer Anzeige wegen seiner Schwarzgeschäfte war auch dann lebendig, wenn er nichts von Nikolitsch sah oder hörte. Die Emotionen sind es, die eine Kontinuität über die kognitiven Drei-Sekunden-Fenster hinaus herstellen. Alle anderen subjektiven Phänomene wie Erinnerungen, Absichten oder Wahrnehmungen haben kürzere Zeitkonstanten als die im Hintergrund ablaufenden emotionalen Bewertungen. Von einem Augenblick auf den nächsten kann sich ändern, was man gerade sieht, hört, erinnert, doch die Emotionen bieten den passenden zeitlichen Klebstoff, um Sinneseindrücke und Informationen über die Zeit hinweg aufrechtzuerhalten. Und dann fällt einem alles Mögliche ein, um das Ziel zu erreichen – in diesem Fall ein „seelisches Gleichgewicht“. So betrachtet sind Verbrecher oftmals unglaublich kreativ.
Warum wissen wir, die Autoren, eigentlich so genau über diesen Fall Bescheid? Einer von uns, Ernst Pöppel, kannte Peter Steinhauer persönlich – und diesen Eindruck möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Meine Familie, Vertriebene aus Pommern, fand nämlich nach der Hinrichtung eine neue Heimat im „Paradies“. Steinhauers Witwe meinte, in dem Haus nicht wohnen zu können, was ich gut verstehen kann. Und auch sonst wollte niemand aus dem kleinen Dorf Timmerhorn in dieses Haus einziehen, denn Steinhauer hatte immer als freundlicher Herr gegolten und seine Hinrichtung hatte viele schockiert. Ich erinnere mich gut daran, wie er jeden Abend mit Seppl auf dem Bauernhof Milch holte, wo wir zuvor gewohnt hatten. Auch im Rückblick kann ich mir diesen Mann, der immer ein nettes Wort für uns übrig hatte, nicht als Mörder vorstellen. Was mich aber als Schreckensbild verfolgt, das ist die Guillotine: Ich kann die Vorstellung nicht hinter mir lassen, dass er seinen Kopf verlor, dass der Kopf vom restlichen Körper getrennt auf den Boden fiel. Der Leichnam wurde dann verbrannt und in einer Urne im Garten des „Paradieses“ vergraben. Und was einen weiteren bleibenden Eindruck hinterließ: Peter Steinhauer hatte vor seiner Hinrichtung in einer Bibel gelesen und sie mit vielen Anmerkungen versehen. Diese Bibel habe ich dann ebenfalls studiert, vor allem seine Anmerkungen. Insbesondere erinnere ich mich an eine Stelle. Dort war von der Verdammnis die Rede, und Steinhauer hatte zwei Worte am Rande notiert: „Wie ich!“ Was für ein Dokument, in dem jemand auf den Tod wartend sein Leben in einen anderen Kontext stellt und Rechenschaft vor sich selbst ablegt.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Erfahrung, in der die ganze Widersprüchlichkeit unseres irdischen Seins deutlich wird – der im Alltag freundliche Herr als Mörder –, eine gewisse theoretische Sensitivität für das Unerwartete in mir hervorgerufen hat, die für die wissenschaftliche Arbeit sehr nützlich ist. Und diese Erfahrung hat dazu geführt, dass ich mich mit der folgenden Frage befasst habe: Warum gibt es überhaupt das fünfte Gebot, dass man also nicht töten soll? Offenbar doch deshalb, weil etwas gebändigt werden muss, das wohl in jedem
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