Von Natur aus kreativ
Film über ihn gemacht.
W agner: Und Oswalt Kolle, über den wir beide uns kennengelernt haben?
Broder: Da hatte ich etwas zum Thema Sexualität geschrieben, mit dem ich mich überfordert fühlte. Habe mir Oswalts Adresse besorgt, er wohnte im vornehmen Breukelen. Er schrieb, ich solle kommen. Er, der berühmte Oswalt Kolle, hat mein Anliegen ernst genommen, das hat mich beeindruckt. Ich fuhr dann also mit meinem Opel Kadett eine superpompöse Auffahrt hoch, es sah merkwürdig aus. Das ist auch ein Bild, das ich gespeichert habe. Eine Erfahrung, die mir später jede Angst vor der Blamage genommen hat.
Wagner: Man braucht Angstfreiheit auch, um kreativ zu sein. Gibt es bei Ihnen noch andere Voraussetzungen für kreatives Handeln? Brauchen Sie Ziele?
Broder: Nicht das Ziel jedenfalls, die Welt zu verbessern. Das sollen UNICEF-Botschafter machen. Aber für eine gute Pointe würde ich alles tun. Ich schreibe nur für mich. Allerdings: Wenn es keine Leser gäbe und wenn die sich nicht aufregen würden, dann würde meine Eitelkeit doch sehr leiden.
Die Gnade des Vergessens
Warum Vergessen zur Kreativität gehört
Jeder versucht, sich vor dem Vergessen zu schützen. Dabei ist dies eine der bestgelungenen Funktionen des Gehirns. Doch will man kreativ sein und ausgewogen leben, kommt man um das Vergessen nicht herum. Ansonsten erginge es einem wie den Savants, die in gemerkten Einzelheiten förmlich ersticken.
Sie schauen eine Stadt einmal vom Hubschrauber aus an und können sie dann in wochenlanger Fleißarbeit nachzeichnen, mit allen Details. Sie verschlingen Telefonbücher wie andere Leute einen Roman von Stephen King und wissen hinterher alles. Sie können den Wochentag jedes x-beliebigen Datums in der Vergangenheit und in der Zukunft berechnen, in Sekundenschnelle. All das sind Fähigkeiten von Savants, Inselbegabten. Der Brite Stephen Wiltshire ist einer davon. Gebäude, Städte, Landschaften – nichts ist vor ihm sicher, alles wird gezeichnet. Der 1974 geborene Wiltshire hat ein außergewöhnliches Talent dazu, detailgetreu die komplexesten visuellen Eindrücke nachzuzeichnen. Berühmt geworden sind seine Stadtbilder, etwa von Tokio, Rom, Hongkong, Frankfurt, Madrid, Dubai, Jerusalem, London und New York, gezeichnet auf gigantischen Leinwänden. Während eines einzigen Hubschrauber-Rundflugs speichert sein Gehirn die Einzelheiten, die er dann mit fließenden Bewegungen wie im Rausch in einem großformatigen Panoramabild nachzeichnet. Er vergisst keine einzige. Aber ist er deshalb wirklich kreativ, wie es der australische Kreativ-Guru Allan Snyder behauptet?
Und wie ist es mit Kim Peek, einem US-Amerikaner aus Salt Lake City? Er war das Vorbild für den hochbegabten Raymond Babbitt in dem Film „Rain Man“. Sein enormes Erinnerungsvermögen fiel mit etwa zwölf Jahren auf, alser das Weihnachtsevangelium, kurz zuvor einmal gehört, Wort für Wort genau wiedergab. Im Laufe seines Lebens lernte er 12000 Bücher auswendig. Seine Lesemethode war eine ganz spezielle, die normalerweise nicht funktioniert: Er las mit dem rechten Auge die rechte Seite eines Buches und mit dem linken Auge die linke Seite. Üblicherweise können Menschen immer nur einen Bewusstseinsinhalt gleichzeitig einnehmen. Sie können sich also immer nur auf eine Sache ganz konzentrieren und anderes bestenfalls automatisiert nebenher erledigen. Kim Peeks Gehirn hatte allerdings eine Besonderheit: Die Verbindungen zwischen den Großhirnhälften (Corpus callosum) waren schwach ausgeprägt. Wohl deswegen war es in so hohem Maße multitaskingfähig.
Aber das erklärt noch nicht alle seine Begabungen. So benötigte er nur acht Sekunden, um zwei Buchseiten mit seiner Methode zu lesen. Geschichtsdaten, die Telefonvorwahlen der USA, Straßennetze aller Staaten hatte er auf diese Weise eingespeichert. Auch an alle Melodien, die er einmal gehört hatte, erinnerte sich „Kim-Puter“. Daneben beherrschte er das Kalenderrechnen: Ohne es im Kalender nachzuschlagen, wusste er bei jedem Datum innerhalb von Sekunden, auf welchen Wochentag es fiel.
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir unter anderem dargestellt, dass kreative Prozesse von unserem Wissen ausgehen und unsere Wissensinhalte neu kombinieren. Aber war Kim Peek kreativ? Weil er sich alles merkte und nichts vergaß, konnte er sich kaum für eine Handlung entscheiden. Alle Möglichkeiten mussten zuvor durchdacht werden. So war er nicht einmal fähig, sich ein Spiegelei zu braten, geschweige denn,
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