Von Natur aus kreativ
Menschen steckt. Vielleicht gilt: „Jeder Mensch ist ein Mörder“? Oder gibt es wirklich jemanden, der noch nie den Wunsch hatte, dass eine bestimmte Person vom Erdboden verschwinden möge?
Was heißt das für uns, die wir ja nun nicht alle unbedingt zu Verbrechern werden wollen, nur um in einer ausgewogenen Gefühlslage zu leben, zumal man nach einem Mord mit einem neuen inneren Ungleichgewicht zu kämpfen hat? Zunächst einmal sollten wir unsere Gefühle sensibel beobachten. Nicht wahrhaben zu wollen, dass man ängstlich, zornig, ungeduldig ist, oder immer ausgeglichen sein zu wollen, sind Ansprüche, die gegen die Natur laufen. Gefühlen immer nachzugeben ist allerdings auch nicht die richtige Konsequenz. Negative Gefühle sind als das anzusehen, was sie sind: Sie sind Anzeichen dafür, dass Sie etwas an Ihrer Lebenssituation ändern sollten.
Schreiben ist ein Rauschzustand
Ein Gespräch mit Henryk M. Broder
Das Carlton Hotel München, Fürstenstraße Ecke Theresienstraße. Ein Traditionshotel. In der Lobby, wo Henryk Broder schon wartet, herrschen die Farben Weiß und Rot vor – genau wie auf dem Cover seines neuen Buches: „Vergesst Auschwitz!“ Am Abend gab es eine Lesung im Literaturhaus München, die einige Zuhörer empört verlassen haben. „Gestern war es gut“, meint Broder. „Wenn viele Zuhörer einen dicken Hals bekommen, gehe ich ruhig ins Bett.“ Ist Aggression eine Triebkraft für das Schreiben?
Wagner: Herr Broder, welche Umstände regen Sie zu Kreativität an?
Broder: Sie rauben mir mit dieser Frage meine emotionale Unschuld! Ich habe mir über die Mechanismen der Kreativität bislang keine Gedanken gemacht. Jedenfalls schreibe ich zunächst einmal so, dass ich es selber gerne lese. Manchmal lese ich alte Geschichten von mir und bin immer noch begeistert. Ich hatte schon in der Jugend sensationell gute Erkenntnisse, die ich heute allerdings, mit meiner gewonnenen Erfahrung, anders formulieren würde.
Wagner: Hat Kreativität viel mit Emotionen zu tun?
Broder: Kreativität ist ein Prozess des Staunens. Ich schreibe, wenn ich mich über etwas maßlos wundere oder ziemlich wütend bin. Zum Beispiel: Das Museum Auschwitz-Birkenau hat an das Holocaust Memorial Museum in Washington eine KZ-Baracke ausgeliehen. Jetzt verlangt Polen die Baracke von den USA zurück. Wenn man so was hört, könnte man meinen, die Welt geht unter. Wie können erwachsene Menschen so dumm sein? Man baut eine zweite Baracke und alle sind glücklich.
Wagner: Was machen Sie dann nach dem Staunen?
B roder: Ich bin wie ein Schwamm, verinnerliche alle Informationen zu dem Thema, sodass ich zwei Tage später felsenfest davon überzeugt bin, sie wären von mir. Die Informationen bleiben Erinnerungsstücke ohne Notizen. Ich setze sie aus dem Gedächtnis zusammen. Meist beginne ich mit etwas Anekdotischem, das mir in Erinnerung geblieben ist, zum Beispiel die Focus-Schlagzeile „Israel droht mit Selbstverteidigung“. Ich staunte damals, wie die Weigerung Israels, sich aus der Geschichte zu verpissen, dem Land zum Vorwurf gemacht wird. Vor 30 Jahren noch hätte ich vorher wochenlang exzerpiert, dann das ganze Zimmer mit Karteikarten ausgelegt. Jetzt schreibe ich aus dem Gedächtnis an jedem Ort.
Wagner: Gibt es eine kreative Phase?
Broder: Für ein Buch habe ich zwei Schichten pro Tag à sieben Stunden gearbeitet. Es ist eine sehr intensive Zeit, ein Rauschzustand. Dieser Rausch ist nur durch Sex zu toppen. Und wenn ein Text morgens fertig sein soll, dann richte ich mich am Abend zuvor innerlich darauf ein, stehe um sieben Uhr auf, und um halb neun hat die Redaktion dann ihren Text, den sie um neun Uhr online stellen will.
Wagner: Ein ganz schöner Nervenkitzel.
Broder: Ja, wie Bungee-Jumping. Allerdings bin ich ein Partialidiot. Ich kann nur schreiben. Ich habe mal einen Film über alte Artisten gemacht. Ein Jongleur war dabei, der hatte nur gelernt, mit Bällen jonglieren. Aber das konnte er perfekt. Eine größere Verdichtung des Lebens kann man sich nicht vorstellen.
Wagner: Haben Sie Vorbilder für Ihre Kreativität?
Broder: Ich habe nur Abitur und Führerschein. Also haben mich Vorbilder geprägt. Zunächst einmal Hanns Dieter Hüsch. Ich war 14, er saß am Flügel in der Aula der Universität und erzählte seine Geschichten, zum Beispiel, was er im Bus am Niederrhein erlebt hat. Diese Beobachtungsgabe war grandios, das hat mein Leben bestimmt! Später lerne ich Hüsch persönlich kennen und habe einen
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