Von Natur aus kreativ
alleine zu leben. Um kreativ zu sein, muss man sich aber entscheiden können, muss man handlungsfähig sein.
Bis zum Alter von zehn Jahren war der 1969 geborene Orlando Serrell aus Virginia ein ganz normaler Junge. Dann aber wurde er von einem Baseball an der linken Schläfe getroffen und verlor das Bewusstsein. Als er kurze Zeit danach wieder aufwachte, schien zunächst alles wie immer zu sein. Doch ein Jahr später fiel dem Jungen auf, dass er sich an jede Einzelheit seit dem Tag des Unfalls erinnern konnte. Und diese Fähigkeit hält bis heute an. Zu jedem x-beliebigen Datum kann er den Wochentag, das Wetter, die Ereignisse nennen, auch was er davor und danach getan hat, sogar Einzelheiten der Kleidung von allen Personen, die ihm begegnet sind. In allen nachprüfbaren Fakten hat sich Serrell noch nie geirrt. Er weiß es einfach, ohne darüber nachzudenken. Und trotzdem ist aus ihm kein begnadeter Wissenschaftler geworden, sondern ein Hausmeister bei einer Supermarktkette.
Was wir uns einprägen, ist normalerweise einer Vergessenskurve unterworfen. Zunächst ist das Wissen noch frisch und gegenwärtig. Nach einiger Zeit verblasst die Erinnerung jedoch. Unwichtige Ereignisse oder nicht wiederholte Fakten werden vergessen. Wie flach oder steil die Vergessenskurve ist, hängt unter anderem vom Lernstoff ab und davon, ob sich Anknüpfungspunkte im Gehirn befinden. Ein weiterer Faktor ist, wie trainiert das Gehirn des jeweiligen Individuums im Lernen ist.
Anders ist es mit dem „kreativen Vergessen“, das kein Nachteil, sondern eine sinnvolle Eigenschaft unseres Gehirns ist. Wir vergessen kreativ, um uns vor Informationsmüll zu schützen. Dieser Vorgang ist zum Denken notwendig. Sigmund Freud bezeichnete Denken als Probehandeln. Alle Informationen, die bei der Probehandlung nicht zum Ziel führen, müssen nicht weiter bedacht und können verworfen werden.
Wir werden permanent von unglaublich vielen Informationen überschwemmt. Die allermeisten davon gelangen nicht in unser Bewusstsein. Die Auswahl dessen, was in unser Bewusstsein kommt und was nicht, wird vom antizipierten Ziel bestimmt. Dabei muss einem das Ziel selbst noch gar nicht oder nur teilweise bewusst sein. Auch das Auswählen und Verwerfen von Informationen ist kein bewusster Vorgang. Doch man hat zumeist eine Ahnung von dem, worauf man zusteuern möchte, welche die Auswahl der Informationen bestimmt. Das geht etwa Schriftstellern so, wenn sie einen längeren Text oder einen Roman schreiben. In einem schwer zu definierenden Zustand zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein, bei dem man aber ganz bei der Sache ist, formiert sich das Ziel, bahnen sich Wege, werden Informationen verwertet. Deswegen ist es in dieser Phase auch besonders destruktiv, wenn man sich nicht konzentrieren kann und dauernd abgelenkt wird. Mathematikern mag es ähnlich gehen, wenn sie dabei sind, eine Beweisführung aufzustellen. Auch Naturwissenschaftler ahnen oft die Lösung für ein Problem, auch wenn sie noch nicht wissen, wie sie zu erreichen ist.
Das kreative Vergessen und das Suchen nach der schon geahnten Lösung sind zwei Prozesse, die sich gegenseitig bedingen. Man könnte dafür am besten das Dürersche Bild von den beiden Händen verwenden, die sich gegenseitig zeichnen. Aber auch Einfälle sind einer Gesetzmäßigkeit unterworfen. Wenn man gerade träge ist oder depressiv, ist der Geist zu wenig aktiviert und es fällt einem nichts ein. Wenn man etwa in einer Prüfungssituation Angst hat und dadurch überaktiviert ist, wird die Leistungsfähigkeit stark vermindert –es fällt einem nichts mehr ein. Auch in Gesprächssituationen, in denen man unbedingt etwas erreichen will, lassen die Einfälle oft auf sich warten. Denn mit großer Zielorientierung wird jeder Einfall sofort daraufhin überprüft, ob er brauchbar ist, und man verschließt die Augen vor dem zufällig eintretenden Einfall. Selbst wenn er ins Bewusstsein gebracht wurde, ist zudem nicht jeder Einfall es wert, aufgegriffen und weiterverarbeitet zu werden. Auch das Weglassen ist kreativ. Darüber unterhalten wir uns bei einem Treffen mit dem Dichter Hans Magnus Enzensberger.
Auch das Weglassen ist eine kreative Tätigkeit
Ein Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger
Ernst Pöppel ist mit Hans Magnus Enzensberger seit vielen Jahren befreundet, während Beatrice Wagner ihm bislang nur immer wieder auf Papier begegnet ist. „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ (1957) ist ihre früheste Erinnerung an
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