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Von Natur aus kreativ

Von Natur aus kreativ

Titel: Von Natur aus kreativ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Poeppel , Beatrice Wagner
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eine kreative Tätigkeit. Das lehrt schon der Umgang mit dem Internet. Wer keinen Filter hat, ist schon verloren, ebenso wie einer, der nichts vergessen kann. Wie funktioniert überhaupt das Vergessen im Gehirn? Das ist doch ein höchst merkwürdiger Vorgang.
    Pöppel: Es gibt wie Theorien hierzu, dass das Gelernte entweder verblasst oder dass es überlagert wird.
    Enzensberger: Ich schreibe gern dünne Bücher. Das finde ich höflicher, auch wenn es schwerfällt, das meiste wegzulassen. Du, Ernst, musst als Wissenschaftler natürlich dicke Bücher schreiben, das gehört zu deinem Nimbus. Viele Schriftsteller allerdings haben nur zwei bis drei Gedanken und breiten diese auf 300 Seiten aus. Ich gehe umgekehrt vor. Im Moment arbeite ich an einem Buch mit dem Titel „Panoptikum“, es enthält 20 Zehn-Minuten-Essays. Die Aufgabe lautet, über möglichst große Themen möglichst kleine Texte zu schreiben.
    Wagner: Wie kommen Sie auf Ihre Ideen?
    Enzensberger: Ich schreibe ungern nur an einem Werk gleichzeitig. Man muss mehr als eine Karte im Ärmel haben. Im Moment plane ich zusammen mit einem Maler ein Buch, in dem Text und Bild gleichberechtigt nebeneinander stehen. Jan Peter Tripp ist ein großer Könner. Er hat auch denTitel „Blauwärts“ erfunden. Von mir stammen die Gedichte, von ihm die Bilder. Es geht nicht um Illustrationen, sondern es entsteht etwas Drittes. Ein Text heißt zum Beispiel „Medusa“. (Holt ein Tafelwerk aus dem 19. Jahrhundert mit Chromolithografien hervor.) Mit sieben Platten gedruckt, dazu noch handkoloriert. Fabelhaft! Das leistet keine Farbfotografie.
    Wagner: Thomas Mann war dafür bekannt, dass er sich wie ein Beamter morgens an den Schreibtisch setzte und jeden Tag regelmäßig an seinen Büchern arbeitete. Wie arbeiten Sie?
    Enzensberger: Wer „Joseph und seine Brüder“ schreiben will, braucht einen beamtenförmigen Tagesablauf, sonst wird er nie fertig. Meine Werke entstehen anders. Ich habe keine Angst vor dem Zufall. Ich schätze ihn. (Holt ein dünnes japanisches Heftchen mit handschriftlichen Notizen hervor.) Nur ich kann lesen, was ich hinkritzle. Theorien und Regeln kommen vorher oder hinterher, aber beim Raptus der Arbeit kann ich sie nicht brauchen. Die Ausarbeitung folgt später. Zwischen den ersten Sätzen und dem fertigen Text können Jahrzehnte liegen. Mein Buch „Hammerstein oder der Eigensinn“ handelt von einem deutschen General, der im Februar 1933, als ihm Hitler seine Pläne für den Zweiten Weltkrieg ankündigte, seinen Abschied nahm. Es war der einzige General, der so gehandelt hat. Davon erfuhr ich zum ersten Mal 1953. 40 Jahre später traf ich zufällig eine Person, die mehr darüber wusste. Dann habe ich angefangen, wie ein Historiker zu arbeiten und in den Archiven in Moskau, Berlin, Hannover und anderswo zu recherchieren.
    Wagner: Herausgekommen ist aber keine wissenschaftliche Biografie.
    Enzensberger: Aber auch kein Roman. Ich halte mich ungern an vorgefertigte Genres. Man muss für jedes neue Projekt eine eigene Form entwickeln. Ich habe den Ehrgeiz, dass meine Fakten stimmen, aber ohne Phantasie bleibt das Ganze steril. Ich habe deshalb auf eine Form zurückgegriffen: auf das Totengespräch. Wenn man sich mit einem Verstorbenen unterhält, so ist ohne weitere Erklärung offensichtlich, dass es sich um eine Fiktion handelt. Den akademischen Historikern ist so etwas nicht erlaubt. Viele waren pikiert, andere haben mich um meine Freiheit beneidet.
    P öppel: Was genau ist ein Roman? Was ist Kunst? Wenn bei mir jemand über das Bewusstsein arbeiten will, darf er ein Jahr lang dieses Wort nicht verwenden. Solche Begriffe sind oft leer, Menschen gebrauchen sie, um nicht über den Inhalt nachdenken zu müssen.
    Enzensberger: Das gilt auch für die Kreativität. In Wahrheit ist sie schlüpfrig und glibbrig wie ein Aal, man muss sie packen und festhalten, dazu braucht es nicht nur Geduld, sondern auch Energie. Die Originalität wird überschätzt. Jeder schreibt an einem jahrtausendealten Text weiter. Aber die Tradition ist kein fester Anker. Jeder muss sie sich gewissermaßen selbst herstellen, nach Maßgabe seiner Bedürfnisse. Auch da geht es um einen Filtrierprozess. Was ich nicht produktiv machen kann, muss ich weglassen. Das ist „learning by doing“. Der Papierkorb ist ebenso unentbehrlich wie der Stift oder der Rechner. Ich habe auch schon Arbeiten weggeworfen, von denen bereits 200 Seiten vorlagen, weil ich merkte, dass etwas an der Struktur der

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