Von Natur aus kreativ
jemandem oder einer Sache zukommt. Werte sind uns jedoch nicht in Form von in Stein gemeißelten Geboten dargeboten worden, sie haben einen anderen Ursprung: Aus Sicht der Naturwissenschaften müssen Werte in unseren existenziellen Bedürfnissen begründet sein. Sie haben sich herausgebildet, weil sie uns einen Vorteil bringen – mehr dazu im nachfolgenden Interview mit dem Neuroethiker James Giordano. Wie die neurowissenschaftliche Forschung zeigt, ermöglichen überhaupt erst die Handlungsdimensionen „Erzeugung von Lust“ und „Vermeidung von Schmerz“ ein Wertgefühl. Sie sind somit die Grundpfeiler jedes Wertesystems. Dies ist natürlich überhaupt kein neuer Gedanke, sondern wurde bereits in der Antike erkannt, etwa von Aristoteles. Die Pole, auf denen Werthaftigkeit beruht, finden sich auch bei Konfuzius, an dem sich die heutige chinesische Kultur noch immer orientiert: Nur aus einer Mitte heraus lässt sich beurteilen, was in einer positiven oder negativen Richtung abweicht. Die Mitte ist die Bedingung eines wirkungsvollen Systems, um etwas zu beurteilen, also zu messen. Sie ist ein Referenzpunkt, den man sich bewusst machen sollte.
Allerdings muss das Erkennen einer Abweichung trainiert werden. Auch wenn wir neurologisch basiert die Veranlagung haben, Werte zu erkennen, gilt es doch im Einzelnen, diese auf konkrete Situationen anzuwenden. Da wir aber in einem gesellschaftlichen System leben, in dem es vor allem auf das Funktionieren ankommt, geht darüber die Ausbildung der eigenen Werte nicht selten zugrunde. Man entwickelt keine Sensitivität, vernachlässigt seine„Theory of Mind“, und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, liegt brach. Deswegen scheitern viele, die sozial aufsteigen. So wie unser König, der nicht dazu in der Lage ist, seine Werte mit der neuen Situation zusammenzubringen, sondern sie über Bord wirft und so anfällig wird für Versuchungen von allerlei Art.
Sobald wir uns mit unserem Wertesystem von den natürlichen Bedürfnissen entfernen, leben wir in einer nicht nachhaltigen Gesellschaft, die nicht überlebensfähig ist. Ein Beispiel hierfür ist das Reich der Azteken, in dem jungen Männern das Herz herausgerissen wurde, um die Götter zu einer Regenspende zu bewegen. Oder auch das China zur Zeit der Kulturrevolution Maos, Deutschland im Dritten Reich oder die Sowjetunion unter Stalin. Immer wenn Ideen „überwertig“ werden und dann von oben diktiert, gehen sie an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.
Dass das moralische Verständnis des Königs aus unserer Geschichte gegen das mehrheitliche Moralverständnis in der Bevölkerung schließlich den Kürzeren zieht, ist ein guter Beweis dafür, dass die Menschen dieses Landes keinen überwertigen oder von oben diktierten moralischen Ideen ausgeliefert sind. Aber es zeigt auch, dass die Natur offenbar verschiedene Werte zulässt. Wir wollen uns zunächst einmal mit dem großen Rätsel befassen, wie wir überhaupt erkennen, dass eine Einsicht oder ein moralischer Wert richtig ist, bevor wir uns der Frage zuwenden, inwieweit Moral und Richtigkeit etwas mit Balance und Kreativität zu tun haben.
Das Konzept der Richtigkeit setzt zunächst voraus, dass es etwas gibt, auf das man sich beziehen kann. Das heißt, wenn man einen Sachverhalt beurteilt, sollte sich dieser etwa zu Beginn eines Gesprächs in der gleichen Weise darstellen wie in der Mitte und am Ende des Gesprächs. Will ich beispielsweise beurteilen, ob das Abkupfern ganzer Passagen beim Erstellen einer Doktorarbeit moralisch oder unmoralisch ist, muss ich von Anfang bis Ende von der gleichen Arbeit und der gleichen Tat und der gleichen Person sprechen. Dieser Anspruch geht auf den Philosophen Aristoteles zurück, der dafür den Satz der Identität formulierte. Demzufolge gilt eine für A gültige Feststellung für jedes A. Das Kunststück des Gehirns besteht darin, die Identität von etwas über die Zeit hinweg zu bewahren und festzuhalten. Aber das gelingt nicht immer.
Aufgeheizte Beziehungsgespräche beispielsweise zeichnen sich dadurch aus, dass sich Bezugsgrößen immer wieder ändern. Am Anfang steht ein konkreterSachverhalt im Vordergrund des Gesprächs, etwa dass der Partner zu selten einkaufen geht. Dann wird das Problem plötzlich auf eine allgemeine, aber etwas verschobene Ebene gehoben und einem Partner vorgeworfen, er würde sich nicht für die Beziehung engagieren. Dann geht es wieder um frühere Verletzungen, und zwischendurch werden
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