Von Natur aus kreativ
bezeichnet wurde, manchmal allerdings auch einfach als „Kein Ding“, weil er gern online korrespondierte, wo seinen Initialen diese Bedeutung beigemessen wurde. Er wohnte in keinem Schloss, aber in einem Hochhaus, von dem aus der Blick ins Umland auch sehr gut war, vielleicht sogar noch besser und übersichtlicher als der vom Schloss des Königs.
Zunächst waren der junge König und der Herr der Buchstaben gute Freunde. Kein Ding verkündete nur Gutes über den jungen König. Und der junge König lobte Kein Ding bei jeder Gelegenheit. Doch irgendwann begann dieser die Macht des Königs anzuzweifeln. Er recherchierte – so nannte man das damals, wenn intime Geheimnisse, private Angelegenheiten und schmutzige Machenschaften einer Person ausspioniert wurden – und fand heraus: Die weiße Weste des Königs war nicht ganz so strahlend weiß wie vermutet. Sie war zwar auch nicht schwarz, aber doch etwas beschmutzt. DerKönig hatte sich hier und da Vorteile zugeschanzt, die ihm nicht zustanden. Und die wollte KD nun mit der Macht seines Buchstabenheeres bekannt machen.
Der junge König bekam davon Wind und – so nähern wir uns dem Thema dieses Kapitels – machte moralische Fehler. Während er sich nämlich auf dem Weg zu einem befreundeten Emir befand, hinterließ er Kein Ding eine Nachricht, in der er ihm drohte, auf dass Kein Ding die Flecken auf seiner weißen Weste nicht publik mache. Doch die Drohung bewirkte genau das Gegenteil. Der Herr der Buchstaben ließ sich nicht einschüchtern und machte eine Geschichte darüber publik, dass der König sehr günstig Geld von einem Freund geliehen bekommen hatte – und dass dieser Freund hoffte, all die anderen Freunde des Königs kennenzulernen, zum Beispiel den Emir, um später vielleicht sogar mit ihnen Geschäfte zu machen. Nun unterhielten sich monatelang alle Untertanen nur noch darüber, dass der junge König doch nicht so untadelig sei, wie sie gedacht hatten. Darüber geriet dieser in Aufregung und machte weitere Fehler: Er revidierte früher getätigte Aussagen und verstrickte sich dabei in Widersprüche. Über Monate hinweg war sein Land daraufhin mit einem Detektivspiel beschäftigt: Hatte er die ganze Wahrheit gesagt? Konnte jemand König bleiben, der als moralisches Vorbild nicht mehr taugte? Dabei kamen immer mehr kleinere Vorkommnisse ans Tageslicht, bei denen sich der König Vorteile dank seiner Position verschafft zu haben schien. Das Volk und das Heer der Buchstaben waren irgendwann richtig verärgert, weil sie sich belogen fühlten. Der moralische Druck auf den König wurde stärker. Und obwohl er bis zum Schluss behauptete, sich stets korrekt verhalten zu haben, dankte er schließlich ab. Und so endet die Geschichte von der kürzesten Königsherrschaft aller Zeiten in diesem Land.
Die Handlungen des jungen Königs stellen sich dem König selbst und der Mehrheit seiner Untertanen offenbar vollkommen unterschiedlich dar. Der König mag gedacht haben, er könne Geschenke und Gefälligkeiten annehmen, wenn sie ihm freiwillig angeboten werden. Die „normalen Menschen“ aus unserer Geschichte finden das unmoralisch, denn sie müssen schließlich Kreditzinsen ebenso wie Reisen und Ehrenplätze selbst bezahlen. Sie vermuten, die Geschenke könnten der Beeinflussung, wenn nicht gar der Bestechung gedient haben. Zumindest finden sie es ungerecht, dass jemand nur aufgrund seiner Position so viele Geschenke bekommt – und sie finden es nicht richtig, sie anzunehmen.
Was ist hier passiert? Der König ist mit einem Mal durch Karriere und Aufstieg in einen völlig neuen Kontext katapultiert worden, dessen Spielregeln er noch nicht versteht und von dessen Wertemaßstäben er sich keine Vorstellung gemacht hat. Genauer: Im Kontext einer (klein-)bürgerlichen Sozialisierung glaubt man, dass „die da oben“ sich alles leisten können, sich alles nehmen können, dass für sie andere Regeln gelten, und so wird es auch in den Medien kolportiert. Wer nun selbst aufsteigt, ohne gefestigte eigene Wertvorstellungen zu besitzen, glaubt, dass dies für ihn ebenso gelte. Die alten Werte aus der eigenen Sozialisierung werden über Bord geworfen, von den neuen gibt es nur ein rudimentäres Wissen, so etwa vom aufklärerischen Ideal, der König sei der erste Diener seines Volkes. Insofern ist ein solcher Aufsteiger in einer schwierigen Situation.
Was Menschen als richtig empfinden, beruht auf Werten. Was aber ist ein Wert? Zunächst einmal eine positive Bedeutung, die
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