Von Natur aus kreativ
jemand anders, wie dies auch in dem Gedicht „Welt im Wandel“ von Robert Gernhardt oder einem Gedicht des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa ausgedrückt wird. Pessoa ist auch insofern interessant, als er als Dichter verschiedene Identitäten angenommen und das unten stehende Gedicht unter dem Pseudonym Ricardo Reis geschrieben hat:
Robert Gernhardt: Welt im Wandel
Ich bin nicht mehr, der ich mal war.
Das wird mir täglich schmerzhaft klar.
Doch dass ich weiß, wer ich mal war,
verdank ich dem, der ich heut bin:
Die Zeit macht dich nicht nur zur Sau,
sie macht auch schlau, macht sogar Sinn.
Fernando Pessoa/Ricardo Reis
Ich weiß nicht, wer mich an mich erinnert,
Ich war ein anderer, als ich er war, noch weiß ich,
Ob mit meiner Seele jene Seele ich erkenne,
Die fühlend ich erinnere.
Es gibt allerdings noch eine ganz andere Betrachtungsweise, bei der angenommen wird, dass unser Selbst etwas Vorbestimmtes und kaum Wandelbares ist: die der Astrologie, die Goethe in seinem bekannten Gedicht „Daimon“ aus „Urworte. Orphisch“ nachvollzieht. Sind wir also vorbestimmt in dem, waswir sind, oder konstruieren wir uns selbst im Rahmen bestimmter Lebensbedingungen?
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sybillen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Dass man Identität auch als Ausdruck der jeweiligen Rolle verstehen kann, die man in verschiedenen sozialen Kontexten spielt, dafür sprechen in der Tat viele Beobachtungen. Vielleicht gibt es gar keinen stabilen „Ich-Kern“ und wir sind Geschöpfe der sich wandelnden Umwelt, immer bemüht, nicht aufzufallen, immer bestrebt dazuzugehören. Diese Sichtweise kommt in einem Gedicht von Rainer Malkowski („Wollte ich heute sein wie am Anfang“) zum Ausdruck:
Am Anfang hatten sie keinen Teller für mich
denn ich war ihnen nicht ähnlich.
Da begann ich mich zu verstellen.
Ich lernte die Suppe zu löffeln wie sie.
Jedes Jahr wurde ich ihnen ähnlicher,
und eines Tages
heiratete ich die Tochter des Kochs.
Wollte ich heute sein wie am Anfang:
ich müsste mich wieder verstellen.
Diese Beobachtung dürfte niemandem fremd sein, dass man die Weise, wie man sich gibt, jeweils an eine gegebene Situation anpasst. Dies gehört einfach auch zu unserer Natur, mit pragmatischer Kompetenz und emotionaler Intelligenz in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Jeder ist in einem sehr ursprünglichen Sinn ein Künstler, wie es Joseph Beuys einmal gesagt hat, denn jeder ist notwendigerweise ein Schauspieler.
Vom Anfang bis zum Ende: Sex und Tod
Zu unserem evolutionären Erbe gehört, dass wir unser irdisches Sein nicht weitertragen können. Irgendwann ist das Leben endgültig vorbei. Natürlich teilt nicht jeder diese durch unsere physische Natur nahegelegte Betrachtungsweise. Der Tod musste in der Geschichte des Lebens im Übrigen erst erfunden werden, denn Lebewesen, die sich durch Zellteilung fortpflanzen, können allein deshalb nicht sterben, weil das, was sich teilt, seine Identität stets mitnimmt. Die Erfindung des Todes hängt mit der sexuellen Fortpflanzung zusammen. Diese bedingt nämlich, dass es Individualität gibt, und erst individuelle Wesen sind wegen ihrer Einmaligkeit zu einem endgültigen Ende verdammt oder eingeladen, wie immer man die Sache betrachtet. Doch bevor man stirbt, muss man erst einmal leben und vorher zum Leben erweckt worden sein, und dies geschieht üblicherweise durch sexuelle Aktivität, wie Robert Gernhardt in „Die natürlichste Sache der Welt“ betont, auch wenn moderne Technologien uns von dieser besonderen Aktivität befreien wollen:
Natürlich gibt es Wollust
Natürlich gibt’s Begehren
Das wäre ja noch schöner
Wenn auch die zwei nicht wären
Wir wären ja verloren
Wenn uns die zwei nicht hätten
Und schwiegen ungeboren
In ungemachten Betten.
Alle psychologischen und biologischen Funktionen unterliegen tagesperiodischen Schwankungen, dies gilt natürlich auch für die Sexualität. Friedrich von Logau beschreibt diesen Sachverhalt in „Die gute Diät“, und dieses vor langer Zeit geschriebene Gedicht ist möglicherweise einer der ersten Hinweise auf die Bedeutung der Chronobiologie für das menschliche Verhalten und Erleben:
Charlotte hatte ihrem
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