Von nun an fuer immer
zehn lange Jahre lang unterdrückt hatte, kamen in dem Augenblick wieder an die Oberfläche, als der Mann, den sie geliebt hatte und den sie immer noch liebte, auf sie zukam.
4. KAPITEL
Er hatte keine Ahnung gehabt, was er sagen oder tun sollte. Ihm war auch nicht klar, ob er ärgerlich oder verbittert, verletzt oder einfach nur gleichgültig war. Nur zu gern hatte James während der letzten Jahre darauf verzichtet, seinen wahren Gefühlen auf den Grund zu gehen. Vor allem während der letzten Tage. Doch sie jetzt so zu sehen – vor Verlegenheit errötet, die großen, bernsteinfarbenen Augen mit Tränen gefüllt, die Augenlider geschwollen und mehrere böse Kratzer im Gesicht – und ihr Schluchzen zu hören, war einfach schrecklich. Ohne zu überlegen, ging er zu ihr und nahm sie behutsam in die Arme.
Es war das Natürlichste von der Welt.
„Ist schon okay. Alles wird gut“, wiederholte er immer wieder, um sie und auch ein wenig sich selbst zu trösten. Vorsichtig drückte er sie an sich, atmete ihren unverwechselbaren Duft ein, und eine Welle der Erleichterung überkam ihn. Erst in diesem Augenblick wurde James klar, wie sehr ihr lebensbedrohlicher Zustand ihn schockiert hatte.
Erst als eine Krankenschwester hereinkam, ließ er Lorna los und trat einen Schritt zurück. Besorgt sah er zu, wie die Schwester Lornas Blutdruck maß und ihr die obligatorischen Fragen nach ihrem Namen und dem aktuellen Datum stellte.
Lorna konnte sich inzwischen gut an ihren Namen erinnern, doch beim Datum hatte sie noch immer Schwierigkeiten.
„Mittwoch?“ Fragend sah sie zu James herüber.
„Nein, meine Liebe. Heute ist schon Freitag“, korrigierte die Schwester sie freundlich. „Aber kein Grund zur Sorge. Sie machen gute Fortschritte und werden schon bald wieder eine zeitliche Orientierung haben. Kann ich noch etwas für Sie tun?“
„Ich hätte gern etwas Wasser“, bat Lorna.
„Also, wie geht es dir wirklich?“, erkundigte sich James, als sie wieder allein waren.
„Den Umständen entsprechend gut.“
„Welchen Umständen?“, hakte er nach. „Sei ehrlich!“
„Ich bin furchtbar verunsichert“, gab Lorna zu. Da sie ihre Eltern nicht beunruhigen wollte, hatte sie sich wie eine Musterpatientin benommen. Egal wie oft ihr die gleichen Fragen gestellt worden waren, sie hatte immer so gut wie möglich geantwortet und niemals selbst etwas gefragt. James gegenüber konnte sie jedoch die Wahrheit sagen. „Ich weiß überhaupt nicht, weshalb ich eigentlich hier bin.“
„Hat dir denn niemand erzählt, was passiert ist?“
„Ich weiß es nicht.“ Er sah ihr an, dass sie verstört war. Ihre Stimme war noch immer rau von der Intubation, und auch wenn sie gerade einen ganz munteren Eindruck machte, rief er sich ins Gedächtnis, dass sie noch vor wenigen Tagen lebensgefährlich verletzt gewesen war.
„Also ich weiß, dass ich einen Autounfall hatte. Und dass ich wegen einiger Vorstellungsgespräche hier in London war. Aber ich habe keine Ahnung, was genau passiert ist. Es kommt mir so vor, als würde ich einen Film ansehen, dessen Anfang ich verpasst habe. Und es ist niemand da, den ich fragen könnte.“
„Hey.“ Dabei konnte er ihr helfen. „Es ging dir sehr, sehr schlecht, Lorna. Noch vor drei Tagen warst du auf der Intensivstation. Es ist vollkommen normal, dass du Erinnerungslücken hast.“
„Nein, so große Erinnerungslücken sind nicht normal.“
„Doch, Lorna! Und die Tatsache, dass wir zwei gerade diese Unterhaltung führen, ist der Beweis dafür, dass du auf dem Weg der Besserung bist.“
„Vielleicht hast du recht …“ Erschöpft ließ sie sich wieder in ihre Kissen sinken und schloss für einige Sekunden die Augen.
„Möchtest du, dass ich dir alles erkläre?“
„Alles?“ Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.
„Ich meinte nur die letzte Woche. Nicht die letzten zehn Jahre.“
„Ja, bitte.“
„Soll ich es vielleicht aufschreiben?“
„Ich glaube, es reicht, wenn du es mir erzählst. Falls ich am Ende des Gesprächs alles wieder vergessen haben sollte, kannst du mir ja immer noch ein paar Notizen machen.“
„Also, du hattest einen Autounfall. Auf der M1 gab es eine Massenkarambolage, in die auch ein voll besetzter Reisebus verwickelt war. Du hast eine Kopfverletzung erlitten, aber deine Prognose ist gut.“
„Meine Mutter hat mir gesagt, dass ich stundenlang bewusstlos war, bevor man mich endlich gefunden hat.“
„Das stimmt nicht. Du warst in eine Decke gehüllt,
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