von Schirach, Ferdinand
Gefühl, dass sein Gehirn surrte, wenn er auf ein
mathematisches Problem in dem Buch stieß, das als unlösbar galt. Das waren die
Momente seines persönlichen Glücks.
Er wohnte, wie alle Brüder,
selbst der Älteste mit 26 Jahren, bei seiner Mutter; der Vater war kurz nach
seiner Geburt gestorben. Die Wohnung der Familie in Neukölln hatte sechs
Zimmer. Sechs Zimmer für zehn Personen. Er war der Jüngste, ihm war die
Abstellkammer zugeteilt worden. Das Oberlicht war aus Milchglas, und es gab ein
Regal aus Fichtenholz. Hier fanden sich die Dinge wieder, die niemand mehr
wollte: Besen ohne Stiele, Putzeimer ohne Henkel, Kabel, für die es keine
Geräte mehr gab. Er saß dort den ganzen Tag vor einem Computer, und während
seine Mutter glaubte, er würde sich - wie seine starken Brüder - mit
Videospielen beschäftigen, las er Klassiker auf Gutenberg.de .
Mit zwölf versuchte er zum
letzten Mal, wie seine Brüder zu werden. Er schrieb ein Programm, das die
elektronischen Sperren der Postbank überlisten und unauffällig hundertstel Centbeträge
von Millionen Konten abbuchen konnte. Seine Brüder begriffen nicht, was ihnen
der »Dumme«, wie sie ihn nannten, gegeben hatte. Sie schlugen ihm wieder auf
den Hinterkopf, die CD mit dem Programm schmissen sie weg. Nur Walid spürte,
dass Karim ihnen überlegen war, er nahm ihn in Schutz vor den gröberen Brüdern.
Als Karim achtzehn Jahre alt
wurde, verließ er die Schule. Er hatte es so eingerichtet, dass er seinen
Realschulabschluss knapp bestanden hatte. Noch nie war jemand in seiner Familie
so weit gekommen. Er lieh sich von Walid 8.000 Euro. Walid dachte, Karim brauche das Geld für den
Drogenhandel, und gab es ihm gerne. Karim wusste inzwischen so viel über die
Börse, dass er über das Internet am Forex-Markt handelte. Innerhalb eines
Jahres verdiente er fast 700.000 Euro. Er mietete sich ein kleines Appartement in
einem bürgerlichen Stadtteil, verließ jeden Morgen die elterliche Wohnung und
nahm so viele Umwege, bis er ganz sicher sein konnte, dass ihm niemand gefolgt
war. Er richtete sein Refugium ein, kaufte sich Mathematikbücher und einen
schnelleren Computer und verbrachte seine Zeit mit dem Handel an der Börse und
mit Lesen.
Seine Familie nahm an, der
»Dumme« handle jetzt mit Drogen, und war damit zufrieden. Natürlich war er
viel zu schmächtig für einen echten Abou Fataris. Er ging nie ins Kick-and-Fight-Sportstudio,
aber immerhin trug er wie sie Goldketten, Satinhemden in grellen Farben und
schwarze Nappalederjacken. Er redete im Neuköllner Slang und verdiente sich
sogar ein klein wenig Respekt, weil er noch nie erwischt worden war. Seine
Brüder nahmen ihn nicht ernst. Wenn man sie gefragt hätte, hätte man zur
Antwort bekommen, er gehöre halt zur Familie. Darüber hinaus machte man sich
keine Gedanken über ihn.
Von seinem Doppelleben ahnte
niemand etwas. Weder davon, dass Karim eine komplett andere Garderobe besaß,
noch dass er spielend sein Abitur in der Abendschule nachgeholt hatte und
zweimal pro Woche Mathematikvorlesungen an der Technischen Universität hörte.
Er verfügte über ein kleines Vermögen, bezahlte Steuern und hatte eine nette
Freundin, die Literaturwissenschaften studierte und nichts von Neukölln wusste.
Karim hatte die Akte des
Strafverfahrens gegen Walid gelesen. Alle in der Familie hatten sie in der
Hand gehabt, aber nur er hatte ihren Inhalt verstanden. Walid hatte einen
Pfandleiher überfallen, 14.490 Euro geraubt und war nach Hause gerast, um sich ein
Alibi zu verschaffen. Das Opfer hatte die Polizei alarmiert und eine genaue
Beschreibung des Täters geliefert; den beiden Ermittlungsbeamten war sofort
klar, dass es sich um einen Abou Fataris handeln musste. Die Brüder sahen sich
allerdings unglaublich ähnlich, ein Umstand, der sie schon oft gerettet hatte.
Kein Zeuge konnte sie bei einer Gegenüberstellung auseinanderhalten, und selbst
auf Filmen von Überwachungskameras ließen sie sich kaum unterscheiden.
Diesmal waren die Polizisten
schnell. Walid hatte die Beute unterwegs versteckt und die Tatwaffe in die
Spree geworfen. Als die Polizei die Wohnung stürmte, saß er auf dem Sofa und
trank Tee. Er trug ein apfelgrünes T-Shirt mit leuchtend gelber Aufschrift:
»FORCED TO WORK«. Er wusste nicht, was das bedeutete, aber er fand es schön.
Die Polizisten nahmen ihn fest. Sie richteten wegen »Gefahr im Verzug« eine »durchsuchungsbedingte
Unordnung« an: Sie schnitten die Sofas auf, kippten
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