von Schirach, Ferdinand
verstanden.«
»Also, die verwechselt jeder,
auch in der Schule haben die Lehrer sie verwechselt. Einmal haben die bei einer
Klassenarbeit in Bio, weil der Walid so schlecht war in Bio ...«, fuhr Karim
unbeirrt fort.
»Danke«, sagte der Richter
laut.
»Nee, aber ich erzähl das mal
mit der Bioarbeit, wie das war ...«
»Nein«, sagte der Richter.
Karim wurde als Zeuge
entlassen und ging aus dem Saal.
Der Pfandleiher saß auf der
Zuschauerbank. Das Gericht hatte ihn bereits gehört, aber er wollte die
Verurteilung miterleben. Er war schließlich das Opfer. Jetzt wurde er nochmals
nach vorne gerufen, und ihm wurde das Familienbild vorgelegt. Er hatte
verstanden, dass es um die >Nummer zwei< ging, den musste er erkennen. Er
sagte - etwas zu schnell, wie er selbst später fand -, dass der Täter
»natürlich der zweite Mann auf dem Bild« gewesen sei. Er habe keine Zweifel,
das sei der Täter, ja, völlig eindeutig »die Nummer zwei«. Das Gericht beruhigte
sich etwas.
Vor der Tür überlegte Karim
inzwischen, wie lange es dauern würde, bis die Richter die Situation
vollständig begriffen hätten. Der Vorsitzende würde nicht lange brauchen, er
würde beschließen, den Pfandleiher nochmals zu befragen. Karim wartete genau
vier Minuten und betrat - ohne Aufforderung - nochmals den Gerichtssaal. Er sah
den Pfandleiher am Richtertisch über dem Familienbild. Alles lief so, wie er
es geplant hatte. Und dann plapperte Karim laut los, er hätte noch etwas
vergessen, man müsse ihn nochmals hören, bitte, nur nochmals kurz, es sei ganz
wichtig. Der Vorsitzende, der diese Art von Unterbrechungen nicht mochte,
sagte gereizt: »Na, was denn noch?«
»Entschuldigung, ich hab einen
Fehler gemacht, ein dummer Fehler, Herr Richter, ganz blöd.«
Karim hatte sofort wieder die
Aufmerksamkeit des gesamten Saales. Alle erwarteten, er würde nun seine
Beschuldigungen gegen Imad zurücknehmen. So etwas kam dauernd vor.
»Also der Imad, Herr Richter, das ist der Zweite auf dem Bild.
Der Walid ist nicht der Zweite, der ist der Vierte. Entschuldigung, ich bin
einfach durcheinander. Die ganzen Fragen und so. Tut mir leid.«
Der Vorsitzende schüttelte den
Kopf, der Pfandleiher wurde rot, der Verteidiger grinste.
»Der Zweite, ja?«, sagte der
Richter wütend. »Der Zweite also ...«
»Ja, ja, der Zweite. Wissen
Sie, Herr Richter«, sagte Karim, »wir haben der Tante ja hinten drauf
geschrieben, wer wer ist, damit sie das auch weiß, weil sie, also die Tante,
uns gar nicht alle kennt. Sie wollte ja mal alle sehen, aber sie kann nicht
nach Deutschland kommen, weil wegen der Einreise und so. Aber wir sind so viele
Brüder. Herr Richter, drehen Sie das Bild doch mal um. Sehen Sie? Da stehen die
ganzen Namen der Reihe nach, wie sie vorne, also auf der anderen Seite, auf dem
Bild sind. Also, wann kriege ich das Bild denn wieder?«
Nachdem man sich aus der
Lichtbilderkartei Fotos von Imad besorgt und >in Augenschein< genommen
hatte, musste das Gericht Walid freisprechen.
Imad wurde verhaftet. Aber er
konnte, was Karim natürlich wusste, durch Ein- und Ausreisestempel nachweisen,
dass er zur Tatzeit im Libanon gewesen war. Er wurde nach zwei Tagen wieder
entlassen.
Die Staatsanwaltschaft
ermittelte schließlich gegen Karim wegen uneidlicher Falschaussage und falscher
Verdächtigung zum Nachteil von Imad. Karim erzählte mir die Geschichte, und wir
entschieden, dass er zukünftig schweigen würde. Auch seine Brüder konnten als
nahe Verwandte von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Dem Staatsanwalt
gingen die Beweismittel aus. Am Ende blieb gegen Karim nur ein starker
Verdacht. Er hatte alles richtig vorausgesehen, er konnte nicht angeklagt
werden. Es gab zu viele andere Möglichkeiten, zum Beispiel hätte Walid Imad das
Geld geben können, oder einer der anderen Brüder war mit Imads Pass gereist -
die Brüder sahen sich eben sehr ähnlich.
Natürlich schlugen sie Karim
wieder auf den Hinterkopf. Sie hatten nicht verstanden, dass Karim Walid
gerettet und die Justiz geschlagen hatte.
Karim schwieg. Er dachte an
den Igel und die Füchse.
Glück
Ihr Kunde war seit 25 Jahren in der Politik. Er zog
sich aus und erzählte dabei, wie er sich hochgedient hatte. Er hatte Plakate
geklebt, in Hinterstuben kleiner Lokale Reden gehalten, seinen Wahlkreis
aufgebaut, und er hatte die dritte Wahlperiode als Abgeordneter auf einem
mittleren Listenplatz überstanden. Er sagte, er habe viele Freunde und
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