von Schirach, Ferdinand
sie
hatte. Er wusste, dass sie Sicherheit suchte und dafür bezahlen würde - es gab
viele wie Irina, sie waren ein gutes Geschäft.
Irina und die anderen fuhren in
einem Kleinbus nach Westen. Nach zwei Tagen hielten sie auf einer Lichtung,
stiegen aus und liefen durch die Nacht. Der Mann, der sie über Bäche und durch
einen Sumpf führte, sprach wenig, und als sie nicht mehr konnten, sagte er, sie
seien jetzt in Deutschland. Ein anderer Bus brachte sie nach Berlin. Er hielt
irgendwo am Stadtrand, es war kalt und neblig, Irina war müde, aber sie
glaubte, sie wäre jetzt in Sicherheit.
In den nächsten Monaten lernte
sie andere Frauen und Männer aus ihrer Heimat kennen. Sie erklärten ihr
Berlin, die Behörden und die Gesetze. Irina brauchte Geld. Legal durfte sie
nicht arbeiten, sie durfte noch nicht einmal in Deutschland sein. Die Frauen
halfen ihr in den ersten Wochen. Sie stand an der Kurfürstenstraße, sie lernte
die Preise für Oral- und Vaginalverkehr. Ihr Körper war ihr fremd geworden, sie
benutzte ihn wie ein Werkzeug, sie wollte weiterleben, auch wenn sie nicht
wusste, wozu. Sie spürte sich nicht mehr.
Er saß jeden Tag auf dem
Bürgersteig. Sie sah ihn, wenn sie zu den Männern ins Auto stieg, und sie sah
ihn, wenn sie morgens nach Hause ging. Er hatte einen Plastikbecher vor sich
gestellt, in den Leute manchmal Geld schmissen. Sie gewöhnte sich an seinen
Anblick, er war immer da. Er lächelte ihr zu - nach ein paar Wochen lächelte
sie zurück.
Als der Winter begann, brachte
Irina ihm eine Decke aus einem Secondhandladen. Er freute sich. »Ich heiße
Kalle«, sagte er und ließ seinen Hund auf der Decke sitzen. Er wickelte ihn
ein und kraulte ihn hinter den Ohren, während er sich selbst wieder auf ein
paar Zeitungen hockte. Kalle trug dünne Hosen, er fror, während er den Hund
wärmte. Irina zitterten die Beine, sie ging schnell weiter. Sie setzte sich auf
eine Bank um die Ecke, zog die Knie an und vergrub ihren Kopf. Sie war 19 Jahre alt, und seit einem Jahr
hatte niemand sie umarmt. Sie weinte zum ersten Mal seit jenem Nachmittag in
ihrer Heimat.
Als sein Hund überfahren
wurde, stand sie auf der anderen Straßenseite. Sie sah Kalle in Zeitlupe über
die Straße rennen, er fiel vor dem Wagen auf die Knie. Er hob den Hund auf.
Der Autofahrer schrie ihm nach, aber Kalle ging mit dem Hund in den Armen in
der Mitte der Straße. Er drehte sich nicht um. Irina lief ihm hinterher, sie
verstand seinen Schmerz, und plötzlich wusste sie, dass sie das gleiche Schicksal
hatten. Gemeinsam begruben sie den Hund im Stadtpark, Irina hielt Kalles Hand.
So hatte alles begonnen.
Irgendwann beschlossen sie, es gemeinsam zu versuchen. Irina zog aus der
verdreckten Pension aus, sie fanden eine Einzimmerwohnung, sie kauften eine
Waschmaschine und einen Fernseher und nach und nach alles andere. Es war Kalles
erste Wohnung. Er war mit sechzehn von zu Hause abgehauen, seitdem lebte er auf
der Straße. Irina schnitt ihm die Haare, sie kaufte ihm Hosen, T-Shirts,
Pullover und zwei Paar Schuhe. Er fand einen Job als Prospektverteiler und half
abends in einer Kneipe aus.
Nun kamen die Männer zu ihnen
nach Hause, Irina musste nicht mehr auf die Straße. Wenn sie morgens wieder alleine
waren, holten sie ihr Bettzeug aus dem Schrank, legten sich hin und hielten
sich fest. Sie lagen ineinander, nackt, still und unbeweglich, sie hörten nur
auf den Atem des anderen und schlossen die Welt aus. Über die Vergangenheit
sprachen sie nie.
Irina hatte Angst vor dem
dicken toten Mann, und sie hatte Angst, in Abschiebehaft zu kommen und
ausgewiesen zu werden. Sie würde zu ihrer Freundin gehen, dort würde sie auf
Kalle warten. Sie nahm ihre Tasche und rannte die Stufen runter. Ihr Handy
vergaß sie in der Küche.
Wie jeden Morgen war Kalle mit
dem Fahrrad und einem kleinen Anhänger in das Gewerbegebiet gefahren, aber
heute hatte der Mann, der die Arbeit verteilte, nichts für ihn. Kalle brauchte
dreißig Minuten zurück nach Hause. Er fuhr mit dem Aufzug nach oben. Er glaubte,
das Klacken der Schuhe Irinas auf der Treppe zu hören. Als er die Tür zur
Wohnung aufschloss, trat sie unten aus dem Haus und ging zur Bushaltestelle.
Kalle saß auf einem der beiden
Holzstühle und starrte den dicken toten Mann und sein leuchtend weißes
Unterhemd an. Auf dem Boden lagen die Brötchen, die er mitgebracht hatte. Es
war Sommer, im Zimmer war es warm.
Kalle versuchte sich zu
konzentrieren.
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