von Schirach, Ferdinand
schlug sich auf den
Mund, um nicht zu schreien. Sie verstand sofort: Kalle hatte versucht, sie zu
retten. Die Polizei würde ihn finden. Sie würden glauben, er habe den dicken
Mann getötet. Die Deutschen klären jeden Mord auf, das zeigen sie dauernd im
Fernsehen, dachte sie. Kalle würde ins Gefängnis kommen. Im Jackett des dicken
Mannes klingelte ununterbrochen ein Handy. Sie musste handeln.
Sie ging in die Küche und rief
die Polizei. Die Beamten verstanden kaum, was sie sagte. Als sie kamen, sahen
sie ins Badezimmer und nahmen sie fest. Sie fragten nach der Leiche, Irina
wusste keine Antwort. Sie sagte immer wieder, dass der dicke Mann
>normal< gestorben sei, es sei ein »Totherz« gewesen. Die Beamten
glaubten ihr natürlich nicht. Als sie in Handschellen aus dem Haus gebracht
wurde, fuhr Kalle vorbei. Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf. Kalle
verstand nicht, er sprang vom Fahrrad und rannte zu ihr. Er stolperte. Die
Polizisten nahmen auch ihn fest. Später sagte er, das sei in Ordnung gewesen,
er hätte sowieso nicht gewusst, was er ohne Irina hätte tun sollen.
Kalle schwieg. Er hatte
schweigen gelernt, und das Gefängnis erschreckte ihn nicht. Er war schon oft
dort gewesen, Einbrüche und Diebstähle. Er hatte im Gefängnis meinen Namen
gehört und bat mich, seine Verteidigung zu übernehmen. Er wollte wissen, was
mit Irina passiert, er selbst war sich gleichgültig. Er sagte, er habe kein
Geld, ich solle mich um seine Freundin kümmern.
Wenn Kalle aussagen würde,
wäre er gerettet, aber er war schwer zu überzeugen. Er fragte immer nur, ob das
Irina nicht schaden könne. Er hielt meine Unterarme umklammert, er zitterte,
er sagte, er wolle keine Fehler machen. Ich beruhigte ihn und versprach, für
Irina einen Anwalt zu finden. Schließlich stimmte er zu.
Er führte die Beamten zu dem
Loch im Stadtgarten und stand dabei, als sie den dicken Mann ausgruben und die
Körperteile sortierten. Er zeigte den Polizisten auch die Stelle, an der er
seinen Hund vergraben hatte. Es war ein Missverständnis, sie gruben auch das
Hundeskelett aus und sahen ihn fragend an.
Die Gerichtsmediziner stellten
fest, dass alle Wunden erst nach dem Tod zugefügt worden waren. Das Herz des
dicken Mannes wurde untersucht: Er war an einem Infarkt gestorben, es gab keine
Zweifel. Der Tötungsverdacht hatte sich aufgelöst.
Am Ende beschränkten sich die
Vorwürfe nur noch auf das Zerstückeln. Der Staatsanwalt dachte an eine Anklage
wegen Störung der Totenruhe. Das Gesetz spricht davon, dass es verboten ist,
>Unfug< mit der Leiche zu treiben. Es sei großer Unfug, eine Leiche zu
zersägen und zu vergraben, sagte der Staatsanwalt.
Der Staatsanwalt hatte recht.
Aber darum ging es nicht. Es kommt nur darauf an, was ein Beschuldigter will.
Kalles Ziel war es, Irina zu retten, nicht die Leiche zu schänden. »Unfug aus
Liebe«, sagte ich. Ich legte eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes vor,
die Kalle recht gab. Der Staatsanwalt zog die Augenbrauen hoch, aber er schloss
die Akte.
Die Haftbefehle wurden
aufgehoben, und beide wurden entlassen. Irina stellte mithilfe einer Anwältin
einen Antrag auf Asyl und durfte vorerst in Berlin bleiben. Sie kam nicht in
Abschiebehaft.
Sie saßen nebeneinander auf
dem Bett. Das Scharnier einer der Schranktüren war bei der Durchsuchung herausgebrochen,
sie hing schief in den Angeln. Sonst hatte sich nichts verändert. Irina hielt
Kalles Hand, sie sahen aus dem Fenster.
»Jetzt müssen wir etwas
anderes machen«, sagte Kalle. Irina nickte und dachte, was für ein Glück sie
doch hatten.
Summertime
Consuela dachte an den Geburtstag ihres Enkels,
sie würde heute die Spielkonsole kaufen müssen. Seit sieben Uhr hatte sie
Dienst. Die Arbeit als Zimmermädchen war anstrengend, aber es war ein sicherer
Job, besser als die meisten, die sie bisher gehabt hatte. Das Hotel bezahlte
etwas über Tarif, es war die erste Adresse der Stadt.
Sie hatte nur noch die Nummer 239 zu reinigen. Die Uhrzeit trug
sie in die Arbeitsliste ein. Sie wurde pro Zimmer bezahlt, aber die Direktion
des Hotels hatte verlangt, dass diese Liste geführt wurde. Und Consuela machte
alles, was die Direktion wollte. Sie durfte den Job nicht verlieren. Sie
schrieb auf den Zettel: 15:26 Uhr.
Consuela drückte auf den
Klingelknopf. Als niemand öffnete, klopfte sie und wartete erneut. Dann entriegelte
sie das elektrische Schloss und schob die Tür eine Handbreit auf. Wie sie
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