von Schirach, Ferdinand
es
gelernt hatte, sagte sie laut: »Reinigung.« Als sie keine Antwort erhielt,
betrat sie den Raum.
Die Suite war 35 Quadratmeter groß und in
warmen Brauntönen gehalten. Die Wände waren mit beigem Stoff bespannt, auf
dem Parkettfußboden lag ein heller Teppich. Das Bett war zerwühlt, auf dem
Nachttisch stand eine geöffnete Wasserflasche. Zwischen den beiden
orangefarbenen Chaiselongues lag eine nackte junge Frau, Consuela sah ihre
Brüste, der Kopf war verdeckt. Am Rand des hellen Teppichs war Blut in die
Wollfasern eingesickert und hatte dort ein rot gezacktes Muster hinterlassen. Consuela
hielt den Atem an, ihr Herz raste, sie ging vorsichtig zwei Schritte vorwärts.
Sie musste das Gesicht der Frau sehen. Und dann schrie sie. Vor ihr lag eine
matschig-blutige Masse aus Knochen, Haaren und Augen, ein Teil der weißlichen
Gehirnsubstanz war aus dem aufgeplatzten Kopf auf das dunkle Parkett gespritzt,
und die schwere Eisenlampe, die Consuela jeden Tag abgestaubt hatte, ragte
blutverschmiert aus dem Gesicht empor.
Abbas war erleichtert. Er
hatte jetzt alles gebeichtet. Stefanie saß neben ihm in ihrer kleinen Wohnung
und weinte.
Er war in Shatila, einem
Palästinenserlager in Beirut, aufgewachsen. Seine Spielplätze lagen zwischen
Baracken mit Wellblechtoren, fünfstöckigen Häusern mit Einschusslöchern und
uralten Autos aus Europa. Die Kinder trugen Trainingsanzüge und T-Shirts mit
westlicher Aufschrift, fünfjährige Mädchen hatten trotz der Hitze Kopftücher
auf, und es gab warmes Brot, eingepackt in dünnes Papier. Abbas war vier Jahre
nach dem großen Massaker geboren. Damals hatte die christlich-libanesische
Miliz Hunderte Menschen verstümmelt und getötet, Frauen waren vergewaltigt und
selbst Kinder erschossen worden. Die Opfer konnte später niemand zählen, die
Angst verschwand nicht mehr. Manchmal legte sich Abbas auf den Lehmboden in
seiner Straße. Er versuchte, die unentwirrbaren Strom- und Telefonkabel zu zählen,
die zwischen den Häusern gespannt waren und den Himmel zerschnitten.
Seine Eltern hatten den
Schleppern viel Geld bezahlt, er sollte in Deutschland eine Zukunft haben. Damals
war er 17. Natürlich
erhielt er kein Asyl, und die Behörden gaben ihm keine Arbeitserlaubnis. Er
lebte von staatlicher Unterstützung, alles andere verboten sie ihm. Abbas
konnte nicht ins Kino gehen, nicht zu McDonald's, er besaß weder eine Playstation
noch ein Handy. Die Sprache lernte er auf der Straße. Er war hübsch, aber er
hatte keine Freundin, er hätte sie noch nicht einmal zu einem Essen einladen
können. Abbas hatte nur sich selbst. Er saß herum, zwölf Monate warf er mit
Steinen nach Tauben, sah im Asylantenheim Fernsehen und trödelte vor
Schaufenstern auf dem Ku'damm. Er langweilte sich zu Tode.
Irgendwann begann er mit
kleinen Einbrüchen. Er wurde erwischt, und nach der dritten Ermahnung durch den
Jugendrichter verbüßte er seinen ersten Dauerarrest. Es war eine tolle Zeit.
Im Gefängnis fand er viele neue Freunde, und als er entlassen wurde, war ihm
einiges klar geworden. Sie hatten ihm gesagt, dass es für Leute wie ihn - und
viele dort waren wie er - nur den Drogenhandel gebe.
Es war ganz leicht. Ein
größerer Dealer, der nicht mehr selbst auf die Straße ging, stellte ihn ein.
Abbas' Platz war ein S-Bahnhof, er teilte ihn sich mit zwei anderen. Zuerst war
er nur der »Bunker«, ein menschlicher Tresor für das Rauschgift. Er hatte die
abgepackten Portionen im Mund. Der andere führte die Verkaufsgespräche, der
Dritte nahm das Geld. Sie nannten es Arbeit.
Die Junkies verlangten »Braunes« oder
»Weißes«, sie zahlten mit 10- und 20 -Euro-Scheinen, die sie gestohlen, erbettelt oder mit
Prostitution verdient hatten. Der Handel ging schnell. Manchmal boten die
Frauen den Händlern ihre Körper an. Wenn eine noch hübsch war, nahm Abbas sie
mit. Anfangs interessierte es ihn, weil die Mädchen alles machten, was er
verlangte. Aber dann störte ihn die Gier in ihren Augen, sie wollten nicht ihn,
sondern die Drogen in seiner Jacke.
Wenn die Polizisten kamen,
musste er rennen. Er lernte schnell, woran sie zu erkennen waren, sie trugen
auch in Zivil eine Uniform: Turnschuhe, Bauchtaschen und Jacken bis zur Hüfte.
Alle schienen den gleichen Friseur zu haben. Und während Abbas rannte,
schluckte er. Wenn er es schaffte, die Cellophanbeutel runterzuwürgen, bevor
sie ihn hatten, wurde der Nachweis schwer. Manchmal verabreichten sie
Brechmittel. Dann saßen sie neben ihm und
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