von Schirach, Ferdinand
leite
sogar einen Untersuchungsausschuss. Natürlich war es kein bedeutender
Ausschuss, aber er war der Vorsitzende. Er stand in seiner Unterwäsche vor ihr.
Irina wusste nicht, was ein Untersuchungsausschuss ist.
Der dicke Mann fand das Zimmer
zu eng. Er schwitzte. Heute musste er es morgens machen, um zehn Uhr war eine
Sitzung. Das Mädchen hatte gesagt, dass das kein Problem sei. Das Bett sah
sauber aus, und sie war hübsch. Sie war nicht älter als 20, schöne Brüste, voller Mund,
mindestens 1,75 Meter
groß. Wie die meisten Mädchen aus Osteuropa war sie zu stark geschminkt. Der
dicke Mann mochte das. Er holte aus seiner Brieftasche siebzig Euro und setzte
sich auf das Bett. Seine Sachen hatte er sorgfältig über den Stuhl gelegt, es
war ihm wichtig, dass die Bügelfalte nicht litt. Das Mädchen zog ihm die
Unterhose aus. Sie schob seine Bauchfettfalten hoch, er sah nur noch ihre
Haare, und er wusste, dass sie lange brauchen würde. >Das ist nun mal ihr
Job<, dachte er und lehnte sich zurück. Das Letzte, was der dicke Mann
spürte, war ein Stich in seiner Brust; er wollte die Hände heben und dem Mädchen
sagen, sie solle aufhören, aber er konnte nur noch grunzen.
Irina verstand das Grunzen als
Zustimmung und machte noch ein paar Minuten weiter, bis sie merkte, dass der
Mann stumm blieb. Sie sah nach oben. Er hatte den Kopf zur Seite gedreht,
Speichel war auf das Kissen gelaufen, die Augen waren zur Decke verdreht. Sie
schrie ihn an, und als er sich immer noch nicht bewegte, holte sie aus der
Küche ein Glas Wasser und kippte es ihm ins Gesicht. Der Mann rührte sich
nicht. Er hatte noch die Socken an. Er war tot.
Irina lebte seit anderthalb
Jahren in Berlin. Sie wäre lieber in ihrem Land geblieben, in dem sie in den
Kindergarten und zur Schule gegangen war, in dem Freunde und Familie wohnten
und dessen Sprache ihr Zuhause war. Irina war dort Schneiderin gewesen, sie
hatte eine hübsche Wohnung gehabt, es hatte alles dort gegeben: Möbel, Bücher,
CDs, Pflanzen, Fotoalben, eine schwarz-weiße Katze, die ihr zugelaufen war.
Ihr Leben hatte vor ihr gelegen, und sie hatte sich darauf gefreut. Sie
entwarf Damenmode, einige Kleider hatte sie schon genäht und sogar zwei
verkauft. Ihre Skizzen waren leicht und durchsichtig. Sie träumte davon, einen
kleinen Laden in der Hauptstraße zu eröffnen. Aber in ihrem Land war Krieg.
An einem Wochenende fuhr sie
zu ihrem Bruder aufs Land. Er hatte den elterlichen Hof übernommen und war
deshalb vom Militär freigestellt worden. Sie überredete ihn, zu dem kleinen See
zu gehen, der an den Hof grenzte. Sie saßen in der Nachmittagssonne auf dem
Bootssteg, Irina erzählte von ihren Plänen und zeigte ihm das Heft mit ihren
neuen Entwürfen. Er freute sich und legte ihr den Arm um die Schultern.
Als sie zurückkamen, standen
die Soldaten auf dem Hof. Sie erschossen ihren Bruder und vergewaltigten Irina.
Sie machten es in dieser Reihenfolge. Die Soldaten waren zu viert. Einer
spuckte ihr ins Gesicht, während er auf ihr lag. Er nannte sie eine Hure und
schlug ihr auf die Augen. Danach wehrte sie sich nicht mehr. Als sie gingen,
blieb sie auf dem Küchentisch liegen. Sie wickelte sich in die rot-weiße Tischdecke
und schloss die Augen. Sie hoffte, es wäre für immer.
Am nächsten Morgen ging sie
wieder zum See. Sie dachte, es sei einfach, sich selbst zu ertränken, aber es
gelang ihr nicht. Als sie wieder an die Oberfläche kam, riss sie den Mund auf,
ihre Lungen füllten sich mit Sauerstoff. Sie stand nackt im Wasser, es gab nur
die Uferbäume, das Schilf und den Himmel. Dann schrie sie. Sie schrie, bis sie
keine Kraft mehr hatte, sie schrie gegen den Tod und die Einsamkeit und den
Schmerz. Sie wusste, dass sie überleben würde, aber sie wusste auch, dass dies
nicht mehr ihr Land war.
Eine Woche später hatten sie
ihren Bruder begraben. Es war ein einfaches Grab mit einem Holzkreuz. Der
Pfarrer sagte etwas von Schuld und Vergebung, während der Bürgermeister auf
den Boden starrte und die Fäuste ballte. Sie gab den Schlüssel zum Hof den
nächsten Nachbarn, sie schenkte ihnen das wenige Vieh und alles, was im Haus
war. Dann nahm sie den kleinen Koffer und ihre Handtasche und fuhr mit dem Bus
in die Hauptstadt. Sie drehte sich nicht um. Das Skizzenbuch ließ sie zurück.
Sie erkundigte sich auf den
Straßen und in den Kneipen nach Schleppern, die sie nach Deutschland bringen
konnten. Der Vermittler war geschickt, er nahm ihr alles Geld ab, was
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