von Schirach, Ferdinand
gefolgt war. Krauther fühlte sich
unwohl.
Weil es hier auf dem Land
nicht viele Fälle gab, die solche Fragen aufwarfen, war zumindest die
körperliche Untersuchung Philipps schnell gegangen. Es wurden keine hirnorganischen
Defekte, keine Erkrankung des zentralen Nervensystems und keine Anomalie im
Chromosomenstatus festgestellt. >Aber<, dachte Krauther, >natürlich
ist er völlig verrückt.<
Als ich den Staatsanwalt das erste
Mal traf, waren seit der Verhaftung sechs Tage vergangen, die Haftprüfung
sollte am nächsten Tag stattfinden. Krauther sah müde aus, aber er schien froh,
seine Überlegungen mit jemandem teilen zu können. »Perversionen«, sagte er,
»tendieren nach Rasch dazu, sich zu steigern. Wenn seine Opfer bisher nur
Schafe waren, könnten es jetzt nicht auch Menschen sein?«
Wilfried Rasch galt bis zu
seinem Tod als Nestor der forensischen Psychiatrie. Die Ansicht, dass
Perversionen mit der Zeit stärker werden, ist eine seiner wissenschaftlichen
Theorien. Aber nach allem, was wir bisher von den Taten Philipps wussten,
schien es mir unwahrscheinlich, dass es überhaupt eine Perversion war.
Vor dem Gespräch mit Krauther
hatte ich mit dem Tierarzt gesprochen, der im Auftrag Nordecks die Kadaver vernichtet
hatte. Die Polizei hatte anderes zu tun gehabt, als diesen Mann zu vernehmen,
vielleicht hatte auch einfach niemand daran gedacht. Der Tierarzt war ein
sorgfältiger Beobachter, und die Vorfälle waren ihm so seltsam erschienen,
dass er über jedes tote Schaf einen kurzen Bericht verfasst hatte. Ich übergab
seine Aufzeichnungen dem Staatsanwalt, der sie kurz überflog. Jedes der Schafe
wies achtzehn Stiche auf. Krauther sah mich an. Auch die Polizistin hatte davon
gesprochen, dass Philipp immer nur >Achtzehn< gesagt habe. Es konnte also
etwas mit der Zahl zu tun haben.
Ich sagte, dass ich nicht
glaube, dass Philipps Sexualität gestört sei. Der Gerichtsmediziner hatte das
letzte Schaf untersucht, aber er hatte keine Hinweise gefunden, dass Philipp
das Töten der Tiere sexuell erregt hatte. Es wurde kein Sperma gefunden und
keine Anzeichen, dass er die Schafe penetriert hatte.
»Ich denke nicht, dass Philipp
pervers ist«, sagte ich.
»Was denn dann?«
»Wahrscheinlich ist er schizophren«, sagte ich.
»Schizophren?«
»Ja, er hat vor irgendetwas
Angst.«
»Das mag ja sein. Aber er
spricht nicht mit dem Psychiater«, sagte Krauther.
»Das muss er auch nicht«,
entgegnete ich. »Es ist doch ganz einfach, Herr Krauther. Sie haben nichts. Sie
haben keine Leiche, und Sie haben keine Beweise für ein Verbrechen. Sie haben
noch nicht einmal Hinweise. Sie haben Philipp von Nordeck einsperren lassen,
weil er Schafe getötet hat. Aber der Haftbefehl ist wegen Totschlags von Sabine
Gericke erlassen worden. Was für ein Unsinn. Er ist nur deshalb in Haft, weil
Sie ein schlechtes Gefühl haben.«
Krauther wusste, dass ich recht
hatte. Und ich wusste, dass er es wusste. Manchmal ist es leichter, Verteidiger
als Staatsanwalt zu sein. Meine Aufgabe war es, parteiisch zu sein und mich
vor meinen Mandanten zu stellen. Krauther musste neutral bleiben. Er konnte es
nicht. »Wenn nur das Mädchen wieder auftauchen würde«, sagte er.
Krauther saß mit dem Rücken
zum Fenster. Der Regen schlug gegen die Scheiben und lief in breiten Bahnen an
ihnen herunter. Er drehte sich auf seinem Bürostuhl und folgte meinem Blick
nach draußen in den grauen Himmel. Wir saßen fast fünf Minuten nur da, sahen
in den Regen, und keiner von uns sprach ein Wort.
Ich übernachtete bei den
Nordecks; das letzte Mal war ich vor 19 Jahren bei Philipps Taufe dort gewesen. Beim Abendessen
wurde eine Scheibe mit einem Stein eingeworfen. Nordeck sagte, es sei die
fünfte in dieser Woche, es habe keinen Sinn, deshalb die Polizei zu rufen. Nur
meinen Wagen solle ich in eine der Scheunen auf dem Hof fahren, sonst wären
morgen die Reifen zerschnitten.
Als ich gegen Mitternacht in
meinem Bett lag, kam Philipps Schwester Viktoria ins Zimmer. Sie war fünf Jahre
alt und trug einen sehr bunten Schlafanzug. »Kannst du Philipp wiederbringen?«,
fragte sie. Ich stand auf, nahm sie auf meine Schultern und brachte sie zurück
ins Bett. Die Türen waren hoch genug, sodass sie sich nicht den Kopf anstieß,
einer der wenigen Vorteile eines alten Hauses. Ich setzte mich auf ihr Bett und
deckte sie zu.
»Hast du schon einmal einen
Schnupfen gehabt?«, fragte ich sie.
»Ja.«
»Weißt du, Philipp hat so
etwas wie Schnupfen
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