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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verbrechen
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spazieren zu gehen. Wir hielten an einem
Feldweg. Über uns wölbte sich Emil Noldes weiter Himmel, der Regen hatte
aufgehört, und man hörte Möwen kreischen. Wir redeten über sein Internat, über
seine Liebe zu Motorrädern und über die Musik, die er zurzeit hörte. Plötzlich
sagte er aus dem Nichts, was er dem Psychiater nicht hatte sagen wollen:
    »Ich sehe Menschen und Tiere
als Zahlen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Wenn ich irgendein Tier sehe,
hat es eine Zahl. Die Kuh dort hinten ist zum Beispiel eine 36. Die Möwe eine 22. Der Richter war eine 51, der Staatsanwalt eine 23.«
    »Überlegst du das?«
    »Nein, ich sehe es. Ich sehe
es sofort. So, wie andere ein Gesicht sehen. Ich denke nicht darüber nach, es
ist einfach da.«
    »Habe ich auch eine Zahl?«
    »Ja, fünf. Eine gute Zahl.«
Wir mussten beide lachen. Es war das erste Mal seit seiner Inhaftierung. Wir
gingen eine Zeit lang schweigend nebeneinander.
    »Philipp, was ist mit der 18?«
    Er sah mich erschrocken an.
»Wieso 18?«
    »Du hast der Polizistin die
Zahl genannt, und du hast die Schafe mit 18 Stichen getötet.«
    »Nein, das stimmt nicht. Ich
habe sie erst getötet und sie dann in jede Seite und in den Rücken je sechsmal
gestochen. Ich musste auch die Augen rausnehmen. Das war sehr schwierig, die
ersten sind dabei kaputtgegangen.« Philipp begann zu zittern. Dann stieß er
hervor:
    »Ich habe Angst vor der
Achtzehn. Es ist der Teufel. Dreimal die sechs. Achtzehn. Verstehst du?« Ich
sah ihn fragend an.
    »Die Apokalypse, der
Antichrist. Es ist die Zahl des Tieres und des Teufels«, schrie er fast.
    Tatsächlich ist 666 eine
biblische Zahl, die in der Offenbarung des Johannes vorkommt. Dort heißt es:
>Hier ist die Weisheit. Wer Verständnis hat, berechne die Zahl des Tieres,
denn es ist eines Menschen Zahl; und seine Zahl ist 666.< Volkstümlich
glaubte man, der Evangelist habe damit den Teufel bezeichnet.
    »Wenn ich die Schafe nicht
töte, werden die Augen das Land verbrennen. Die Augäpfel sind die Sünde, sie
sind die Äpfel vom Baum der Erkenntnis, sie werden alles zerstören.« Philipp begann
zu weinen, hemmungslos wie ein Kind, er zitterte am ganzen Körper.
    »Philipp, hör mir bitte zu. Du
hast Angst vor den Schafen und ihren scheußlichen Augen. Das kann ich
verstehen. Aber die ganze Sache mit der Offenbarung des Johannes ist völliger
Unsinn. Johannes meinte mit der 666 nicht den Teufel, sondern es war eine
versteckte Anspielung auf den römischen Kaiser Nero.«
    »Was?«
    »Wenn man die Zahlenwerte der
hebräischen Schreibweise für Kaiser Nero addiert, erhält man die Summe 666.
Das ist alles. Johannes konnte das nur nicht schreiben, er musste es
chiffrieren. Es hat nichts mit dem Antichristen zu tun.«
    Philipp weinte noch immer. Es
hatte keinen Sinn, ihm zu sagen, dass nirgendwo in der Bibel von einem
Apfelbaum im Paradies die Rede ist. Philipp lebte in seiner eigenen Welt. Irgendwann
beruhigte er sich, und wir gingen zurück zum Wagen. Die Luft war klar gewaschen
und schmeckte nach Salz. »Ich habe noch eine Frage«, sagte ich nach einiger
Zeit. »Ja?«
    »Was hat das alles mit Sabine
zu tun? Warum hast du das mit ihren Augen gemacht?«
    »Ein paar Tage vor ihrem
Geburtstag habe ich ihre Augen in meinem Zimmer gesehen«, sagte Philipp. »Sie
hatte Schafsaugen bekommen. Und dann ist es mir klar geworden. Ich habe ihr
das an dem Abend ihres Geburtstages im Dikhüs gesagt, aber sie wollte es nicht
hören. Sie bekam Angst.«
    »Was ist dir klar geworden?«,
fragte ich.
    »Ihr Vor- und Familienname
besteht aus je sechs Buchstaben.«
    »Wolltest du sie töten?«
    Philipp sah mich lange an.
Dann sagte er: »Nein, ich will keine Menschen töten«.
     
     
    Eine Woche später brachte ich
Philipp in eine psychiatrische Klinik in der Schweiz. Er wollte nicht, dass
sein Vater mitkam. Nachdem wir seine Koffer ausgepackt hatten, empfing uns der
Leiter des Krankenhauses und zeigte uns die hellen und modernen Gebäude.
Philipp war dort gut untergebracht, sofern man das von einer Nervenheilanstalt
überhaupt sagen kann.
    Ich hatte lange mit dem
Chefarzt telefoniert. Auch er war aus der Ferne der Ansicht, dass alles für
eine paranoide Schizophrenie sprach. Die Krankheit ist nicht selten, man geht
davon aus, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung daran einmal im Leben leidet.
Oft tritt sie in Schüben auf und führt dann zu formalen und inhaltlichen Denk-
und Wahrnehmungsstörungen. Die meisten Patienten hören Stimmen, viele glauben,
sie

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