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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verbrechen
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im Kopf. Er ist ein bisschen krank und muss gesund werden.«
    »Wie niest er im Kopf?«, fragte sie. Mein
Beispiel war offensichtlich nicht besonders glücklich.
    »Man kann nicht im Kopf
niesen. Philipp ist einfach durcheinander. Vielleicht so, wie wenn du schlecht
träumst.«
    »Aber wenn ich aufwache, ist
es wieder gut«, sagte sie.
    »Genau. Philipp muss wieder
richtig wach werden.«
    »Bringst du ihn wieder?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Ich werde es versuchen.«
    »Nadine hat gesagt, Philipp
hat was Böses gemacht.«
    »Wer ist Nadine?«
    »Nadine ist meine beste
Freundin.«
    »Philipp ist nicht böse,
Viktoria. Du musst jetzt schlafen.«
    Viktoria wollte nicht
schlafen. Sie war nicht zufrieden, dass ich so wenig wusste. Sie machte sich um
ihren Bruder Sorgen. Dann wollte sie, dass ich ihr eine Geschichte erzähle. Ich
erfand eine, in der keine Schafe und keine Krankheiten vorkamen. Als sie
eingeschlafen war, holte ich die Akte und meinen Laptop und arbeitete in ihrem
Zimmer bis zum Morgen. Sie erwachte noch zweimal, setzte sich kurz auf, sah
mich an und schlief dann weiter. Gegen sechs Uhr lieh ich mir ein Paar der in
der Halle herumstehenden Gummistiefel des Hausherrn und ging in den Hof, um
eine Zigarette zu rauchen. Es war nasskalt, ich war übernächtigt, und es blieben
nur noch acht Stunden bis zur Haftprüfung.
     
    Von Sabine gab es auch an diesem Tag keine Spur. Sie
war nun seit einer Woche verschwunden. Staatsanwalt Krauther beantragte
Haftfortdauer.
    Haftprüfungen sind meistens
unerfreuliche Termine. Im Gesetz heißt es, dass zu prüfen sei, ob gegen den
Inhaftierten ein sogenannter dringender Tatverdacht besteht. Das klingt eindeutig
und klar, ist aber in der Realität kaum zu fassen. Die Ermittlungen haben zu
diesem Zeitpunkt oft gerade erst begonnen, das Verfahren steht am Anfang, und
vieles ist noch unübersichtlich. Der Richter darf es sich nicht leicht machen,
er hat über die Freiheit eines vielleicht unschuldigen Menschen zu
entscheiden. Haftprüfungen sind viel weniger förmlich als Hauptverhandlungen,
die Öffentlichkeit bleibt ausgeschlossen, Richter, Staatsanwälte und
Verteidiger tragen keine Roben, und in der Praxis ist es ein ernstes Gespräch
über die Frage der Haftfortdauer.
    Der Ermittlungsrichter in der
Strafsache gegen Philipp von Nordeck war ein junger Mann, der gerade erst seine
Probezeit hinter sich hatte. Er war nervös, er wollte keine Fehler machen.
Nach einer halben Stunde sagte er, er habe die Argumente gehört, seine
Entscheidung ergehe im »Dezernatswege«. Das bedeutete, dass er die 14 -Tages-Frist ausnutzen wollte,
um weitere Ermittlungen abzuwarten. Es war für alle unbefriedigend.
     
    Als ich das Amtsgericht
verließ, schüttete es noch immer.
     
     
    Sabine saß auf einer Holzbank
im Zwischendeck der Fähre zwischen Kollund und Flensburg. Sie hatte in dem
Badeort, der nicht viel mehr als ein Möbelgeschäft und einen kleinen Strand
bot, eine glückliche, wenn auch verregnete Woche mit Lars verbracht. Lars war
ein junger Bauarbeiter, auf seinen Rücken war der Name seines Fußballclubs
tätowiert. Sabine hatte die Woche mit ihm ihren Eltern verschwiegen, ihr Vater
mochte Lars nicht. Ihre Eltern vertrauten ihr, sie dachte, sie würden ohnehin
nicht von sich aus anrufen.
    Lars hatte sie zum Schiff
gebracht, und nun hatte Sabine Angst. Schon als sie die kleine Fähre bestieg,
hatte der Mann mit dem zerschlissenen Jackett sie angestarrt. Noch immer sah er
ihr direkt ins Gesicht, und nun kam er auch noch auf sie zu. Sie wollte gerade
aufstehen und weggehen, als der Mann sagte: »Sind Sie Sabine Gerike?«
    »Ahm, ja.«
    »Um Himmels willen, Mädchen,
rufen Sie sofort zu Hause an, Sie werden überall gesucht. Schauen Sie mal hier
in die Zeitung.«
     
    Kurz darauf klingelte das
Telefon bei Sabines Eltern, und eine halbe Stunde später rief mich Staatsanwalt
Krauther an. Sabine, sagte er, sei nur mit ihrem Freund ausgebüxt, sie werde am
Nachmittag zurückerwartet. Philipp würde entlassen, er müsse aber unbedingt in
psychiatrische Behandlung. Das hatte ich ohnehin bereits mit Philipp und
seinem Vater vereinbart. Krauther nahm mir das Versprechen ab, mich darum zu
kümmern.
     
     
    Ich holte Philipp aus der
Justizvollzugsanstalt ab, die aussah wie ein Gebäude aus einem
Anker-Steinbausatz. Natürlich freute sich Philipp, in Freiheit zu sein, und
darüber, dass es Sabine gut ging. Auf dem Rückweg zu seinem Elternhaus fragte
ich ihn, ob er Lust habe, noch etwas

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