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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verbrechen
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würden verfolgt, seien an Naturkatastrophen schuld, oder sie werden, wie
bei Philipp, von Wahnvorstellungen gequält. Man behandelt die Krankheit mit
Medikamenten und langen Therapien. Die Patienten müssen Vertrauen haben und
sich öffnen. Die Chancen auf eine vollständige Heilung liegen bei etwa dreißig
Prozent.
     
    Am Ende der Führung brachte
Philipp mich zur Pforte. Er war nur noch ein einsamer, trauriger und
ängstlicher Junge. Er sagte: »Du hast mich nie gefragt, was ich für eine Zahl
bin.«
    »Stimmt. Und, welche Zahl bist
du?«
    »Grün«, sagte er, drehte sich
um und ging zurück in die Klinik.
     
    Der
Dorn
     
    Feldmayer hatte in seinem
Leben schon viele Jobs gehabt. Er war Briefausträger, Kellner, Fotograf,
Pizzabäcker und ein halbes Jahr lang Schmied gewesen. Mit 35 Jahren bewarb er sich auf eine
Stelle als Wächter im städtischen Antikenmuseum und wurde zu seiner
Verwunderung eingestellt.
    Nachdem er alle Formulare
ausgefüllt, die Fragen beantwortet und Lichtbilder für den Hausausweis
abgegeben hatte, händigte man ihm in der Kleiderkammer drei graue Uniformen,
sechs mittelblaue Hemden und zwei Paar schwarze Schuhe aus. Ein zukünftiger
Kollege führte ihn durch das Gebäude, zeigte ihm Kantine, Ruheraum und
Toiletten und erklärte die Bedienung der Stechuhr. Am Schluss sah er den Raum,
den er später zu bewachen hatte.
     
    Während Feldmayer durch das
Museum ging, ordnete Frau Truckau, eine der beiden Angestellten in der
Personalabteilung, seine Unterlagen, schickte einen Teil an die Buchhaltung
und legte eine Handakte an. Die Namen der Wächter waren auf Kärtchen zu
übertragen und in einen Karteikasten einzusortieren. Alle sechs Wochen wurden
die Mitarbeiter so in neuer Reihenfolge einem anderen städtischen Museum zugewiesen,
um ihren Dienst abwechslungsreicher zu gestalten.
    Frau Truckau dachte an ihren
Freund. Er hatte ihr gestern in dem Cafe, in dem sie sich seit fast acht
Monaten nach der Arbeit trafen, einen Heiratsantrag gemacht. Er war rot geworden
und hatte gestottert, seine Hände waren feucht gewesen, die Umrisse hatten
sich auf dem Marmortischchen abgebildet. Sie war vor Freude aufgesprungen,
hatte ihn vor allen Leuten geküsst, und dann waren sie bis zu seiner Wohnung
gerannt. Jetzt war sie todmüde und übervoll von Plänen; gleich würde sie ihn wiedersehen,
er hatte versprochen, sie abzuholen. Sie verbrachte eine halbe Stunde auf der
Toilette, spitzte Bleistifte, sortierte Büroklammern, trödelte auf dem Flur,
und schließlich hatte sie es geschafft. Sie warf sich ihre Jacke über, rannte
die Stufen bis zum Ausgang runter und fiel in seine Arme. Frau Truckau hatte
vergessen, das Fenster zu schließen.
     
    Als später die Putzfrau die
Bürotür öffnete, erfasste ein Windstoß die halb ausgefüllte Karteikarte. Sie
wurde zu Boden geweht und aufgefegt. Am nächsten Tag dachte Frau Truckau an
alles Mögliche, nur nicht an Feldmayers Karteikarte. Sein Name wurde nicht in
den Rotationskasten einsortiert, und als Frau Truckau ein Jahr später wegen
ihres Babys aus dem Dienst ausschied, hatte man ihn vergessen.
     
    Feldmayer beschwerte sich nie.
    Die Halle war fast leer, acht
Meter hoch und etwa 150 Quadratmeter groß. Die Wände und halbrunden Decken bestanden
aus Ziegelmauerwerk, dessen Rot von einer Kalkschwemmschicht gedämpft wurde
und warm hervortrat. Der Boden war mit graublauem Marmor ausgelegt. Es war der
letzte von zwölf aufeinanderfolgenden Sälen in einem Seitenflügel des Museums.
Im Zentrum der Halle stand die Büste, sie war auf einen grauen Steinsockel
montiert. Unter dem mittleren der drei hohen Fenster war der Stuhl, auf der
linken Fensterbank befand sich ein Luftfeuchtigkeitsmesser unter einer
Glashaube. Er tickte leise. Vor dem Fenster lag ein Innenhof mit einer
einzelnen Kastanie. Der nächste Wächter versah vier Räume weiter seinen Dienst,
manchmal konnte Feldmayer das entfernte Quietschen der Gummisohlen auf dem
Steinfußboden hören. Ansonsten war es still. Feldmayer setzte sich und wartete.
     
    In den ersten Wochen war er
unruhig, stand alle fünf Minuten auf, lief in seinem Saal hin und her, zählte
seine Schritte und freute sich über jeden Besucher. Feldmayer suchte nach
Arbeit. Er vermaß seine Halle, als einziges Hilfsmittel benutzte er ein
Holzlineal, das er von zu Hause mitgebracht hatte. Zuerst nahm er Länge und
Breite einer Marmorbodenplatte und errechnete daraus die Größe des Fußbodens.
Dann bemerkte er, dass er die Fugen vergessen

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