Von sündiger Anmut: Roman (German Edition)
nach unten. Er berührte mich … unter meinem Nachthemd. Ich wehrte mich, doch ich war jung und schwach …« Mary Anne atmete bebend ein. »Ehe Sie jetzt falsche Schlüsse ziehen: Es kam nicht zum Äußersten, sodass er mich zumindest nicht ruinierte. Ich schlug nicht nur wild um mich, sondern es gelang mir auch, obwohl er mir den Mund zuhielt, laut zu schreien. Ein einziges Mal bloß. Immerhin reichte es, dass ein Dienstmädchen angerannt kam. Bevor sie das Zimmer betrat, drohte er mir noch, allen zu erzählen, ich hätte ihn dazu gebracht, sich mir zu nähern. Er hat mir einzureden versucht, ich trüge die Schuld. Mit Erfolg offenbar.«
»Holen Sie erst einmal ganz tief Luft«, drängte Elizabeth sie.
Mary Anne nickte und tat, wie ihr geheißen, ehe sie fortfuhr. »Dann flüchtete er durch die Terrassentür aus meinem Zimmer. Deshalb habe ich nie jemandem davon erzählt. Mein Vater war gerade erst gestorben, und da wollte ich meiner Mutter keinen zusätzlichen Kummer bereiten. Aber ich bin nie wieder in die Nähe dieses Mannes gegangen. Immer wenn ein Besuch anstand, habe ich mich krank gestellt. Das kann ich perfekt, etwa mich auf Kommando übergeben. Und ich sorgte ebenfalls dafür, dass er keine Einladung zu Ihrer Verlobungsfeier erhielt.«
Elizabeth konnte nicht anders. Sie beugte sich vor und schloss Mary Anne in ihre Arme, hielt sie, bis das Zittern allmählich nachließ.
»Sie sind so tapfer gewesen, Mary Anne, und haben sich selbst gerettet. Das ist wirklich alle Bewunderung wert.«
»Schon möglich, doch ich habe mir von ihm mein Leben nehmen lassen«, erwiderte sie. »Lange Zeit konnte ich Männer nicht einmal ansehen. Stattdessen konzentrierte ich mich voll und ganz aufs Billardspiel. Weil es etwas ist, das ich kontrollieren kann.«
»Warum ausgerechnet Billard?«
»Onkel Cecil spielt Billard«, erklärte sie mit einem Anflug von Bitterkeit. »Jetzt beherrsche ich es besser als er.«
»Ich verstehe.«
»Wirklich?«, fragte Mary Anne und sah sie forschend an. »Einerseits habe ich jedes Mal Angst, wenn Lord Thomas mich anschaut. Obwohl er sich mir gegenüber immer wie ein Gentleman benommen hat, und in Vauxhall Gardens werde ich schließlich nicht alleine mit ihm sein.«
Elizabeth überlegte kurz, Mary Anne von Thomas’ Erpressungsversuch zu erzählen, verzichtete indes darauf, weil seine Reue sehr echt geklungen hatte. Und wer war sie, anderen ihre Fehler nachzutragen? Sie musste Thomas die Chance zugestehen, seinen Sinneswandel unter Beweis zu stellen.
»Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass es besser wäre, nicht hinzugehen«, sagte Elizabeth, »aber wenn es Ihnen so wichtig ist, achten Sie zumindest darauf, sich nicht auf ein Stelldichein zu zweit einzulassen. Denn Sie wollen ja nicht, dass Ihr Ruf Schaden nimmt.«
»Denken Sie daran: Ich trage eine Maske.«
»Und denken Sie daran, dass selbst Masken nicht narrensicher sind. Sie könnten sich in irgendeiner Weise verraten.«
»Das werde ich nicht.«
»Nun gut. Nur eines noch: Ich weiß, dass Sie Ihre Familie mit Ihrem Schweigen schonen wollten, weil Sie sie lieben. Trotzdem bin ich der Meinung, dass sie es wissen müsste. Auch jetzt noch. Denken Sie darüber nach.«
»Das werde ich. Und gibt es etwas, dass ich Peter von Ihnen ausrichten soll?«
»Bitten Sie ihn, mich zu besuchen.«
Als Peter früh am Abend desselben Tages durch die Balkontür trat, war Elizabeth gerade dabei, sich für das Abendessen umzuziehen. Sie verschlang ihn mit ihren Blicken, als sei es Wochen und nicht erst ein paar Tage her, dass sie ihn das letzte Mal alleine gesehen hatte.
Es war ihr egal, ob jemand beobachtete, wie er zur Balustrade hochkletterte, denn schließlich galten sie ja als verlobt. Und mehr als das: Peter gab ihr das Gefühl, die wichtigste Frau auf der ganzen Welt zu sein – der Mittelpunkt seines Denkens und Fühlens, seines Lebens.
Ob er nun ernst oder lustig war, sie liebte und bewunderte ihn wegen seines Wesens und für das, was er sich durch eigene Anstrengungen geschaffen hatte. Doch gleichgültig ob mittellos wie früher oder wohlhabend geworden durch kluge Geschäfte – Peter war für sie der wertvollste Mensch, den sie sich vorstellen konnte.
Sie wusste nicht, wo sie anfangen und was sie sagen sollte. Am Ende schloss sie einfach nur die Tür ab, rannte zu ihm und warf sich in seine Arme. Sie küssten sich voll verzweifeltem Verlangen, und ihre Hände berührten einander, liebkosten sich.
Er murmelte ihren Namen, während
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