Von sündiger Anmut: Roman (German Edition)
Licht. Auf Zehenspitzen huschte sie durch die Halle und überlegte gerade, wie sie ungesehen an der halb offenen Tür vorbei zu Mary Annes Zimmer gelangen sollte, als eine Stimme hinter ihr erklang.
Sie gehörte nicht James, sondern Peter, und der rief nicht etwa ihr etwas zu – nein, er redete mit Thomas! Sie drückte sich regungslos an die Wand und lauschte.
»Es ist spät«, erklärte Peter mit kalter Stimme. »Ich weiß nicht, worüber Sie unbedingt mit mir sprechen wollen.«
»Ich bin nicht wegen Lady Elizabeth hier.«
»Das weiß ich. Inzwischen haben Sie ein Auge auf meine Schwester geworfen. Das werde ich nicht zulassen.«
»Sie hat Sie nicht um Rat gefragt«, erwiderte Thomas ungeduldig. »Sie ist mit mir und ein paar Freunden nach Vauxhall Gardens gefahren.«
»Was?«, brüllte Peter.
Sie vernahm Geräusche, die ziemlich eindeutig nach einem Handgemenge klangen, und sie fragte sich bereits, ob sie ihr Versteck verlassen und eingreifen sollte.
Offenbar war Peter dem anderen an den Hals gefahren, denn Thomas’ Stimme hörte sich leicht krächzend an, als er wieder das Wort ergriff. »Wenn Sie mich weiter würgen, erfahren Sie nie, was ich zu sagen habe.«
»Dann spucken Sie es endlich aus und verschwinden dann, ehe ich …«
»Mary Anne weiß, wie schäbig ich mich Elizabeth gegenüber benommen habe. Ich wollte, dass sie die Wahrheit kennt.«
Elizabeth ließ sich schwer gegen die Wand sinken. Was mochte diese Enthüllung bei Mary Anne, die schon so lange diese übergroße Angst vor Männern mit sich herumschleppte, ausgelöst haben?
»Mit Sicherheit der größte Gefallen, den Sie ihr erweisen konnten«, erklärte Peter kalt.
»Das dachte ich auch – sie leider nicht. Sie lief vor mir weg, und ich habe sie in der Menge aus den Augen verloren.«
»Haben Sie sie gefunden?«, wollte Peter wissen und sprach damit aus, was Elizabeth sich ebenfalls fragte.
»Ich konnte der Droschke folgen, die sie genommen hat. Machen Sie sich nicht die Mühe, in ihr Zimmer zu schauen, denn sie ist nicht nach Hause, sondern zu Ihrem Club gefahren.«
»O Gott«, stieß Peter hervor.
»Als ich dort eintraf, sah ich sie gerade noch im Dienstboteneingang verschwinden. Sie trägt nach wie vor ihre Maske, glaube ich, aber ich habe keine Ahnung, was sie plant. Und weil sie vermutlich nicht mit mir reden will, bin ich zu Ihnen gekommen.«
Elizabeth hörte nicht weiter zu. Sie schlich wieder nach draußen und hielt eine Kutsche an. Sie hatte ebenfalls keine Idee, was Mary Anne im Club ihres Bruders suchte. Sie wusste nur, sie musste dorthin und ihr helfen, denn die junge Frau fühlte sich mit Sicherheit schrecklich enttäuscht. Der Himmel mochte wissen, in welchem Zustand sie sich befand. In einem sehr verzweifelten, vermutete sie, denn sonst würde sie kaum einen Herrenclub aufsuchen, in dem Damen keinen Zutritt hatten.
Wie auch immer, sie musste mit ihr reden.
In einer anderen Kutsche fuhren Peter Derby und Thomas Wythorne durch das nächtliche London. Beide schwiegen.
Peter versuchte sich zu beruhigen, dass jetzt alles in Ordnung sei und Mary Anne zur Besinnung kommen würde. Andererseits, so weit hatte er Elizabeths Ausführungen verstanden, musste sie furchtbar verbittert sein, dass sie sich in dem Mann getäuscht hatte, auf dem all ihre Hoffnungen ruhten.
Er sah seinen Begleiter an. Im Schein der Straßenlaternen erkannte er den leeren Blick und die angespannten Gesichtszüge. Gegen seinen Willen musste er zugeben, dass Wythorne betroffen wirkte. War seine Schwester für ihn doch nicht bloß ein Zeitvertreib?
Beim Club angekommen, ließ Thomas Peter den Vortritt, als sie die Eingangstreppe immer zwei Stufen auf einmal nehmend hinaufrannten. Vor der doppelflügeligen Tür zum Salon hielten sie abrupt inne und wussten nicht, worauf sie als Erstes schauen sollten. Auf Mary Anne am Billardtisch oder auf das aufreizende Gemälde im Hintergrund. Sie trug immer noch Umhang und Maske und hielt das Queue wie das Zepter einer Königin, die von ihren Höflingen umringt wird.
»Man lässt hier doch gar keine Frauen rein«, sagte Wythorne leise von hinten zu Peter. »Wie konnte das passieren?«
»Vielleicht haben sie geglaubt, es handle sich um die Mätresse eines Mitglieds«, erwiderte Peter. »Die werden hier gelegentlich durchaus geduldet, wenn man sich davon einen gewissen Unterhaltungswert verspricht.«
»Sind viele Männer dabei, die sie kennen – schließlich ist ihr Haar unbedeckt. Und die außerdem wissen, wie
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