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Von Zweibeinern und Vierbeinern

Von Zweibeinern und Vierbeinern

Titel: Von Zweibeinern und Vierbeinern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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dessen brachte ich mich hier fast um. Und schlimmer noch – ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich als nächstes zu tun hatte.
    Doch langsam, ganz allmählich kam das Kalb zum Vorschein. Der Schwanz zuerst, dann ein unglaublich massiver Brustkasten und schließlich, in einem Flutsch, die Schultern und der Kopf.
    Norman und ich fielen mit einem Plumps auf den Hintern, das Kalb lag auf unseren Knien. Ich sah – und das war wie ein Lichtschimmer in tiefer Dunkelheit –, daß es schnaufte, daß es den Kopf bewegte, daß es lebte.
    »O Gott, ist das ein Riesentier!« rief der Bauer. »Und ziemlich munter!«
    »Ja, wirklich, es ist gewaltig! So ein großes Kalb habe ich, glaube ich, noch nie gesehen.« Ich tastete zwischen die Hinterbeine. »Ein Bulle. Hab ich mir schon gedacht. Auf normalem Wege wäre der nie heil rausgekommen.«
    Meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die Kuh. Wo war der Uterus? Ich suchte verzweifelt in der Bauchhöhle. Meine Hand verschlang sich in der Plazenta. Verdammt, dachte ich, auch nicht gerade gut, wenn die zwischen den Eingeweiden herumschwimmt. Ich zog sie heraus und ließ sie auf den Boden fallen, aber den Uterus konnte ich einfach nicht finden. Einen Moment lang überlegte ich, was passieren würde, wenn ich ihn nie fände... Doch da stießen meine Finger an die schartige Kante meines Einschnitts.
    Ich zog das Organ so weit wie möglich ans Licht und sah, daß der Einschnitt, den ich gemacht hatte, weiter aufgerissen war, als wir das Kalb herausgezogen hatten. Der Riß verlief in Richtung Gebärmutterhals, wo er meinen Blicken entschwand.
    »Fäden!« Ich streckte die Hand aus, und Norman gab mir eine neue Nadel. »Halten Sie die Wundränder zusammen«, sagte ich und begann zu sticheln.
    Ich arbeitete so ruhig ich konnte und kam gut voran, solange ich den Riß sehen konnte. Der Rest war das reinste Martyrium. Norman hockte mit finsterem Gesicht da, während ich in dem unsichtbaren Gewebe tief unten in der Bauchhöhle der Kuh herumstichelte. Manchmal stach ich Norman in die Finger, manchmal mir selbst. Zu meinem Schrecken gab es eine neue Komplikation.
    Das Kalb stand jetzt auf seinen Füßen und torkelte unsicher. Die Geschwindigkeit, mit der neugeborene Tiere auf die Beine kommen, hat mich immer fasziniert, aber in diesem Moment bedeutete diese Selbständigkeit eine unwillkommene Störung.
    Das Kalb, das jetzt durch ein Wunder, welches niemand erklären kann, auf der Suche nach dem Euter war, stieß dauernd seine Nase in die Flanke der Kuh und, da es manchmal taumelte, auch in das klaffende Loch in ihrem Bauch.
    »Es will wohl wieder rein«, sagte Mr. Bushell grinsend. »Zum Teufel, ist das ein munteres Ding!«
    ›Munter‹ heißt in Yorkshire soviel wie lebendig, und das Wort war nie angebrachter gewesen als hier. Während ich mit halbgeschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähnen arbeitete, mußte ich dauernd die feuchte Schnauze des Kalbs mit dem Ellbogen wegschieben, aber sie kam ebenso schnell wieder zurück, und zu meinem Entsetzen sah ich, daß sie, wenn sie in die Wunde vordrang, Strohteilchen und Staub vom Boden in die Bauchhöhle blies.
    »Sieh dir das an«, sagte ich. »Als ob nicht schon genug Dreck drin wäre!«
    Norman antwortete nicht. Sein Mund stand offen, und der Schweiß rann ihm über das blutverschmierte Gesicht, während er mit der ungesehenen Wunde rang. Sein starrer verzweifelter Blick verriet deutlich, daß er erheblich daran zweifelte, ob seine Entscheidung, Tierarzt zu werden, richtig gewesen war.
    Ich möchte nicht weiter in die Einzelheiten gehen. Die Erinnerung ist zu schmerzlich. Es genügt zu sagen, daß ich nach einer halben Ewigkeit den Riß im Uterus so weit zugenäht hatte, wie es möglich war; danach säuberten wir die Bauchhöhle der Kuh so gut es ging und bestäubten alles mit antiseptischem Puder. Ich nähte Muskeln und Haut wieder zusammen, wobei das Kalb mich ständig störte – und endlich war alles getan.
    Norman und ich erhoben uns langsam wie zwei alte, sehr alte Männer. Es dauerte eine Weile, bis ich den Rücken wieder gerade machen konnte, und ich sah, wie Norman sich verstohlen die Lendengegend rieb. Wir wuschen und schrubbten uns den Schmutz ab.
    Mr. Bushell hatte seinen Platz neben dem Kopf der Kuh verlassen und sah sich die Reihe der Stiche in der Haut an. »Hübsche saubere Arbeit«, sagte er. »Und ein schönes Kalb!«
    Ja, das stimmte. Das Tier war jetzt trocken, und es war eine Schönheit. Es schwankte noch

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