Voodoo
Französisch war die Hauptsprache der Arche Noah, aber Schüler, die eine besondere Begabung fürs Englische zeigten – was in Anbetracht des herrschenden Einflusses amerikanischer Musik und amerikanischen Fernsehens bei vielen der Fall war –, wurden in Richtung des amerikanischen Lehrplans gelenkt. Im Erdgeschoss wurde auf Französisch, oben auf Englisch unterrichtet. Nach Abschluss der Schule konnte, wer wollte, aufs College gehen – alles von den Carvers finanziert.
Zu beiden Seiten des Flurs lagen Klassenzimmer. Max spähte durch die Glasscheiben in den Türen hinein und sah Gruppen von Schülern, Jungen und Mädchen, in adretten Uniformen aus blauen Röcken oder kurzen Hosen und weißen Blusen oder Hemden. Alle geschniegelt und gebügelt, und alle lauschten aufmerksam ihrem Lehrer, selbst die in den hinteren Reihen. Max konnte sich nicht vorstellen, in Amerika ein so ordentliches Klassenzimmer zu sehen, so disziplinierte und lernbegierige Schüler.
»Und wo ist der Haken?«, fragte Max, als sie die Treppe in den ersten Stock erklommen.
»Wieso Haken?«
»Die Carvers sind Geschäftsleute. Sie verschenken kein Geld. Was haben Sie davon? Publicity kann es nicht sein. Sie sind zu reich, als dass Sie sich darum scheren müssten, was die Leute von Ihnen denken.«
»Ganz einfach«, sagte Carver mit einem Lächeln. »Nach dem Studium kommen sie wieder und arbeiten für uns.«
»Alle?«
»Ja, wir haben viele Unternehmen, weltweit, nicht nur hier. Sie können in den USA arbeiten, in Großbritannien, Frankreich, Japan, Deutschland.«
»Und wenn sie woanders ein besseres Angebot kriegen?«
»Ach, das meinen Sie mit Haken«, lachte Carver. »Mit sechzehn unterschreiben alle Schüler der Arche Noah einen Vertrag, in dem sie sich verpflichten, nach Abschluss ihres Studiums entweder für uns zu arbeiten, bis sie unsere Investition zurückerstattet haben …«
»Investition?«, fragte Max. »Seit wann ist Wohltätigkeit eine Investition?«
»Habe ich gesagt, dass es hier um Wohltätigkeit geht?«, entgegnete Carver.
Im nächsten Stock hörte Max Englisch in verschiedensten Mischungen aus amerikanischem und franko-haitianischem Akzent. Er spähte in die Klassenzimmer und sah die gleichen vorbildhaften Schüler.
»Meist dauert es sechs bis sieben Jahre, bis unsere Investition zurückerstattet ist, bei Mädchen etwas länger, acht bis neun Jahre«, sagte Carver. »Natürlich können sie uns die komplette Summe auch in einer Rate zurückzahlen, und sie sind frei.«
»Aber das passiert natürlich nie. Wo sollten die Kinder schon so viel Geld herkriegen?«, sagte Max mit Zorn in der Stimme und Zorn in den Augen. »Denen geht es ja nicht wie beispielsweise Ihnen, Mr. Carver, oder? Die sind nicht mit dem silbernen Löffel im Mund auf die Welt gekommen.«
»Ich kann nichts dafür, dass ich reich geboren wurde, genauso wenig wie diese Kinder etwas dafür können, dass sie in die Armut geboren wurden, Max«, entgegnete Carver, ein angestrengtes Lächeln auf den dünnen Lippen. »Ich verstehe Ihre Bedenken, aber diese Kinder sind sehr glücklich über das Arrangement. Wir haben eine Verbleibquote von fünfundneunzig Prozent. Nehmen wir zum Beispiel die Frau, die hier unterrichtet.« Er zeigte auf eine kleine, hellhäutige Frau in einem geräumigen olivgrünen Kleid, das für einen Mönch entworfen schien, so sehr ähnelte es einer Kutte. »Eloise Krolak. Eine von uns. Jetzt ist sie hier Rektorin.«
»Krolak? Ist das polnisch?«, fragte Max und musterte die Dame etwas genauer. Ihre Haare, die zu einem strengen Dutt gebunden waren, waren bis auf das Grau am Ansatz schwarz. Sie hatte einen kleinen Mund und einen leichten Überbiss. Beim Sprechen erinnerte sie an ein Nagetier, das sich an einem weichen Stück Obst gütlich tat.
»Wir haben Eloise in der Nähe der Stadt Jérémie gefunden. Viele Menschen dort haben sehr helle Haut, und viele haben blaue Augen, wie Eloise. Sie stammen von einer Garnison polnischer Soldaten ab, die aus Napoleons Armee desertierte, um auf der Seite von Toussaint L’Ouverture zu kämpfen. Nachdem die Franzosen besiegt waren, hat Toussaint den Soldaten zur Belohnung Jérémie überlassen. Sie haben sich mit den Einheimischen vermischt, und es sind einige sehr schöne Menschen dabei herausgekommen.«
Ausnahmen bestätigen die Regel , dachte Max beim Anblick der Rektorin.
Sie gingen weiter in den nächsten Stock. Carver zeigte ihnen den Speisesaal und die Zimmer des Lehrkörpers: ein
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